Damit beendete Fräulein Zoë Bertgang, am Schluss im
Ausdruck und Ton etwas abgemildert, ihre rückhaltlose, ausführliche
und lehrreiche Strafrede, und merkwürdig in der Tat war's, wie genau
sie dabei dem Reliefbildnis der Gradiva glich. Nicht nur in den Gesichtszügen,
der Gestalt, den mit klugem Ausdruck blickenden Augen, dem reizvoll gewellten
Haar wie in der mehrfach zur Schau gestellten graciösen Gangweise;
auch ihre Gewandung, Kleid und Kopftuch aus einem cremefarbigen, feinen,
viel- und weichfaltigen Kaschmirstoff vollendeten die ausserordentliche
Aehnlichkeit der gesamten Erscheinung. Es mochte viel Thorheit in dem
Glauben gelegen haben, dass eine vor zwei Jahrtausenden vom Vesuv verschüttete
Pompejanerin zeitweilig wieder lebend herumgehen, sprechen, zeichnen und
Brod essen könne, aber wenn der Glaube selig machte, nahm er überall
eine erhebliche Summe von Unbegreiflichkeiten in den Kauf. Und in Berücksichtigung
sämmtlicher Umstände lagen unstreitig bei der Beurtheilung der
Kopfverfassung Norbert Hanolds doch einige Milderungsgründe für
die Verrückheit vor, dass er zwei Tage lang die Gradiva als Rediviva
angesehen hatte.
Obwohl er trocken unter dem Porticusdach dastand, liess sich doch nicht
ganz unzutreffend ein Vergleich zwischen ihm und einem begossenen Pudel
anstellen, dem eben ein voller Wasserkübel über den Kopf geschüttet
worden. Allein eigentlich hatte das kalte Brausebad ihm wohlgethan. Ohne
recht zu wissen warum, fühlte er seine Brust davon wesentlich zu
besserem Athemholen erleichtert. Dazu mochte freilich besonders die Thonumänderung
am Schlusse der Predigt – denn die Rednerin sass wie auf einem Kanzelstuhl
– mit beigetragen haben, wenigstens war bei ihr zwischen seine Lider
ein verklärender Schimmer gerathen, wie er aus den Augen andächtig
ergriffener Kirchenbesucher die erweckte Hoffnung auf ein Seligwerden
durch den Glauben zum Vorschein bringt. Und da die Abkanzlung nun überstanden
war, ohne dass eine weitere Fortsetzung zu befürchten schien, gelang's
ihm, vom Mund zu bringen: »Ja, nun erkenne ich – nein, im
Grunde hast du dich gar nicht verändert – du bist es, Zoë
– meine gute, fröhliche, klugsinnige Cameradin – das
ist höchst sonderbar –«
»Dass Jemand erst sterben muss, um lebendig zu werden. Aber für
die Archäologie ist das wohl nothwendig.«
»Nein, ich meine dein Name –«
»Warum ist der sonderbar?«
Der junge Archäolog erwies sich nicht nur in den classischen Sprachen,
sondern auch in der Etymologie der germanischen bewandert und versetzte:
»Weil Bertgang mit Gradiva gleichbedeutend ist und ›die im
Schreiten glänzende‹ bezeichnet.«
Die beiden sandalenähnlichen Schuhe Fräulein Zoë Bertgangs
erinnerten augenblicklich durch ihre Beweglichkeit gradezu an eine ungeduldig
wippende, auf etwas wartende Bachstelze; doch sprachwissenschaftliche
Erläuterungen schienen nicht das zu sein, worauf die Inhaberin der
im Schreiten glänzenden Füsse gegenwärtig ihr Augenmerk
verwendete. Auch durch ihre Miene erregte sie den Eindruck, mit irgendeiner
hurtigen Ausführung umzugehen, ward davon indess noch durch einen
hörbar aus tiefster Ueberzeugung heraufkommenden Ausruf Norbert Hanolds
abgehalten: »Aber welches Glück, dass du nicht die Gradiva
bist, sondern so wie die sympathische junge Dame!«
Das liess einen Zug wie aufhorchender Verwunderung über ihr Gesicht
gehen, und sie fragte: »Wer ist das? Wen meinst du?«
»Die dich im Haus des Meleager anredete.«
»Kennst du die?«
»Ja, ich hatte sie schon gesehen. Es war die erste, die mir vortrefflich
gefallen hat.«
»So? Wo hast du sie denn gesehen?«
»Heut' vormittags im Haus des Faun. Da thaten die beiden auch etwas
ganz Sonderbares.«
»Was thaten sie denn?«
»Sie sahen mich nicht und küssten sich.«
»Das war ja eigentlich recht vernünftig. Wozu sind sie sonst
in Pompeji auf der Hochzeitsreise?«
Mit einem Schlage veränderte sich bei dem letzten Wort vor den Augen
Norberts das bisherige Bild, denn der alte Mauerrest lag leer geworden
da, weil die, welche sich ihn zum Sitz, Lehrkatheder und Kanzel auserwählt
gehabt, von ihm heruntergekommen war. Oder eigentlich geflogen, und zwar
ebenfalls mit der eigenartig wiegenden Behendigkeit einer sich durch die
Luft davonschwingenden Bachstelze, so dass sie schon wieder auf den Gradivafüssen
stand, ehe der Blick ihren Niederflug mit Bewusstsein aufgefasst hatte.
Und wie unmittelbar im Sprechen fortfahrend, sagte sie: »Nun hat
der Regen aufgehört, zu gestrenge Herren regieren nicht lange. Das
ist ja auch vernünftig, und so ist Alles wieder zur Vernunft gekommen,
ich nicht am wenigsten, und du kannst Gisa Hartleben, oder welchen neuen
Namen sie trägt, wieder aufsuchen, um ihr bei dem Zweck ihres Aufenthalts
in Pompeji wissenschaftlich behilflich zu sein. Ich muss jetzt in den
Albergo del Sole, denn mein Vater wird schon zum Mittagessen auf mich
warten. Vielleicht treffen wir uns in einer Gesellschaft in Deutschland
oder auf dem Mond noch einmal wieder. Addio.«
Das sprach Zoë Bertgang in dem durchaus artigen, doch auch ebenso
gleichmüthigen Ton einer jungen Dame von bester Erziehung und stellte,
den linken Fuss versetzend, nach ihrem Brauch die Sohle des rechten beinah
senkrecht zum Weitergange auf. Da sie ausserdem in Anbetracht des draussen
stark durchnässten Bodens mit der linken Hand ihr Kleid ein wenig
in die Höh' raffte, war das Ebenbild der Gradiva vollendet, und der
auf kaum mehr als doppelte Armlänge von ihr entfernt Stehende nahm
nur zum erstenmal eine ganz geringfügige Abweichung der lebendigen
von der steinernen gewahr. Dieser fehlte etwas, das jene besass und das
augenblicklich besonders deutlich an ihr zutage trat, ein kleines Grübchen
auf der Wange, darin sich ein winziger, nicht bestimmbarer Vorgang zutrug.
Es hielt sich ein bischen gekraust und gefältelt, konnte damit einen
Verdruss oder auch einen verhaltenen inneren Lachreiz, möglicherweise
beides zusammen zum äusseren Ausdruck bringen. |