Darauf sah Norbert Hanold hin, und obwohl er nach dem ihm eben
ausgestellten Zeugnis wieder völlig zur Vernunft gelangt war, mussten
seine Augen doch nochmals einer optischen Täuschung unterliegen.
Denn er stiess mit einem eigenthümlich über seine Entdeckung
triumphirenden Ton aus: »Da sitzt die Fliege wieder!«
So absonderlich klang's, dass der verständnislosen Hörerin,
die sich nicht selbst anzusehen vermochte, unwillkürlich die Frage
entflog: »Die Fliege – wo?«
»Da auf deiner Wange!« Und zugleich schlang der Antwortende
plötzlich einen Arm um ihren Nacken und haschte diesmal nach dem
von ihm so tief verabscheuten Insekt, das die Vision seinem Blick in dem
Grübchen vorgaukelte, mit den Lippen. Offenbar indess ohne Erfolg,
denn gleich danach rief er nochmals: »Nein, nun sitzt sie dir auf
der Lippe!«, und damit wendete er blitzgeschwind seinen Fangversuch
dieser zu, jetzt aber so lang ausdauernd, dass kein Zweifel darüber
bleiben konnte, er gelange zur vollkommensten Erreichung seines Zweckes.
Und merkwürdigerweise behinderte die lebendige Gradiva ihn diesmal
durch nichts dabei, und als ihr Mund nach Ablauf von ungefähr einer
Minute sich einmal genöthigt sah, tief nach Athem zu ringen, sagte
sie, zur Sprachfähigkeit zurückversetzt, nicht: »Du bist
wirklich verrückt, Norbert Hanold«, vielmehr liess ein überaus
reizvolles Lächeln um ihre erheblich stärker als zuvor geröteten
Lippen erkennen, sie sei eher noch mehr von der vollständigen Gesundung
seiner Vernunft überzeugt worden.
Die Villa des Diomedes hatte vor zwei Jahrtausenden in einer bösen
Stunde sehr Schauerliches gesehen und gehört, doch gegenwärtig
vernahm und gewahrte sie ungefähr eine Stunde lang nur Dinge, die
sich nicht im allergeringsten zur Einflössung eines Grausens eigneten.
Dann jedoch machte sich einmal bei Fräulein Zoë Bertgang eine
verständige Besinnung geltend, und infolge davon gerieth ihr, eigentlich
wider Wunsch und Willen, vom Mund: »Jetzt aber muss ich wirklich
gehen, sonst verhungert mein armer Vater. Mich däucht, du kannst
heute auf die Mittagsgesellschaft Gisa Hartlebens verzichten, da du nichts
mehr von ihr zu lernen hast, und nimmst am besten mit mir in der Sonnenwirthschaft
vorlieb.«
Daraus liess sich auf Einiges schliessen, das während der Stunde
unter vielem Anderm mit zur Rede gekommen sein musste, denn es wies auf
eine hülfreiche Lehrthätigkeit hin, die Norbert von der genannten
jungen Dame zu Theil geworden. Doch fasste er aus den mahnenden Worten
nicht dies auf, sondern etwas zum erstenmal ihm erschreckend ins Bewusstwerden
Kommendes, das sich durch die Wiederholung kundgab: »Dein Vater
– was wird der –?«
Fräulein Zoë fiel indess, ohne irgendein Anzeichen in ihr dadurch
erweckter Beunruhigung, ein: »Wahrscheinlich wird er nichts, ich
bin kein unentbehrliches Stück in seiner zoologischen Sammlung; wär'
ich das, hätte sich mein Herz vielleicht nicht so unklug an dich
gehängt. Im Uebrigen bin ich mir schon von frühauf darüber
klar gewesen, dass ein Frauenzimmer auf der Welt nur zu etwas nützt,
wenn sie einem Mann die Mühe abnimmt zu bestimmen, was im Hause geschehen
soll; die erspare ich meinem Vater fast stets, und du kannst nach dieser
Richtung also auch für deine Zukunft ziemlich beruhigt sein. Sollte
er jedoch zufällig einmal und grade in diesem Fall eine andere Meinung
haben als ich, da machen wir's so einfach wie möglich. Du fährst
für ein paar Tage nach Capri hinüber, fängst dort mit einer
Grasschlinge – wie man's macht, kannst du an meinem kleinen Finger
einüben – eine Lacerta faraglionensis, lässt sie hier
wieder laufen und fängst sie vor seinen Augen noch einmal. Dann stellst
du ihm die Wahl frei zwischen ihr und mir, und du hast mich so sicher,
dass es mir beinah' um dich leid tut. Gegen den Collegen Eimer aber, fühle
ich heut', hab' ich mich bisher undankbar verhalten, denn ohne seine geniale
Eidechsenfang-Erfindung wäre ich wahrscheinlich nicht in das Haus
des Meleager gekommen, und das wäre doch schade gewesen, nicht nur
für dich, sondern auch für mich.«
Dieser letzten Ansicht gab sie bereits ausserhalb der Villa des Diomedes
Ausdruck, und leider war kein Mensch mehr auf Erden vorhanden, der über
die Stimme und Sprechweise der Gradiva irgendwelche Angaben machen konnte.
Doch wenn auch sie denen des Fräuleins Zoë Bertgang ebenso wie
alles sonstige geglichen hatten, mussten sie einen ganz ungewöhnlich
schönen und schalkhaften Reiz besessen haben.
Von dem ward wenigstens Norbert Hanold so stark überkommen, dass
er, ein wenig zu poetischem Aufschwung emporgetragen, ausrief: »Zoë,
du liebes Leben und liebliche Gegenwart – unsere Hochzeitsreise
machen wir nach Italien und Pompeji!«
Das bildete einen entschiedenen Beleg für die Erfahrung,
wie sehr veränderte Umstände auch eine Umwandlung im Menschengemüth
herbeiführen und zugleich eine Gedächtnisschwächung damit
verbinden können. Denn es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass er
sich und seine Begleiterin auf jener Reise dadurch der Gefahr aussetzen
werde, von misanthropisch-missmuthigen Eisenbahngenossen die Namen August
und Grete zu empfangen; aber er dachte daran augenblicklich so wenig,
wie dass sie Hand in Hand miteinander durch die alte Gräberstrasse
von Pompeji dahingingen. Freilich drängte diese sich auch gegenwärtig
der Empfindung nicht mehr als solche auf; wolkenloser leuchtete und lachte
wieder über ihr, die Sonne deckte ein goldenes Teppichgewirk auf
die alten Lavaplatten, der Vesuv breitete seine duftige Pinienkrone aus,
und die ganze ausgegrabene Stadt erschien, statt mit Bimssteinen und Asche,
von dem wohlthätigen Regensturz mit Perlen und Diamanten überschüttet.
Mit den letzteren wetteiferte auch ein Glanz in den Augen der jungen Zoologentochter,
doch ihre klugen Lippen entgegneten auf den kundgegebenen Reisezielwunsch
ihres gewissermassen gleichfalls aus der Verschüttung wiederausgegrabenen
Kindheitsfreundes: »Darüber, denke ich, wollen wir uns heute
nicht den Kopf zerbrechen; das ist eine Sache, die wohl besser von uns
beiden erst noch öfter in reiflichere Erwägung gezogen und künftigen
Eingebungen überlassen wird. Ich fühle mich wenigstens zu solcher
geographischen Entscheidung jetzt doch noch nicht völlig lebendig
genug.« |