Das letzte sagte sie mit einem lächelnden Zug um die Lippen, der indess so leicht und anmuthig war, dass er nichts Schreckhaftes an sich trug. Im Gegentheil verlieh er dem Befragten jetzt Sprechfähigkeit, nur mit der Beschränkung, dass der junge Archäolog auf einmal nicht wusste, welches Pronomens er sich eigentlich bei seiner Antwort bedienen solle. Um diesem Dilemma zu entkommen, fand er's am besten, überhaupt keines anzuwenden, sondern erwiderte: »Ich war – wie Jemand sagte – etwas verwirrt im Kopf und bitte um Verzeihung, dass ich die Hand derartig – wie ich so sinnlos sein konnte, ist mir nicht begreiflich – aber ich bin auch nicht imstande zu begreifen, wie ihre Besitzerin mir meine – meine Unvernunft mit meinem Namen vorhalten konnte.«
Die Füsse der Gradiva hielten in ihrer Bewegung inne, und sie entgegnete, bei der Anrede in der zweiten Person verbleibend: »So weit ist dein Begreifen also noch nicht vorgeschritten, Norbert Hanold. Wundernehmen kann's mich allerdings nicht, da du mich lange daran gewöhnt hast. Um die Erfahrung wieder zu machen, hätte ich nicht nach Pompeji zu kommen gebraucht, und du hättest sie mir um gut hundert Meilen näher bestätigen können.«
»Um hundert Meilen näher« – wiederholte er verständnislos und halb stotternd – »wo ist das?«
»Deiner Wohnung schräg gegenüber, in dem Eckhaus, an meinem Fenster steht ein Käfig mit einem Canarienvogel.«
Wie eine Erinnerung aus einer weiten Ferne rührte das letzte Wort den Hörer an, der es wiederholte: »Ein Canarienvogel –«, und er fügte, noch entschiedener stotternd, hinzu: »Der – der singt?«
»Das pflegen sie zu thun, besonders im Frühling, wenn die Sonne wieder warm zu scheinen anfängt. In dem Haus wohnt mein Vater, der Professor der Zoologie Richard Bertgang.«
Norbert Hanolds Augen erweiterten sich zu einer noch niemals von ihnen erreichten Grösse. Er sprach abermals nach: »Bertgang – dann sind Sie – sind Sie – Fräulein Zoë Bertgang? Die sah aber doch ganz anders aus –«
Die beiden herabhängenden Füsse fingen wieder ein wenig an zu schlenkern, und Fräulein Zoë Bertgang sprach dazu: »Wenn du die Anrede passender zwischen uns findesst, kann ich sie ja auch anwenden, mir lag nur die andere natürlicher auf der Zunge. Ich weiss nicht mehr, ob ich früher, als wir täglich freundschaftlich miteinander herumliefen, gelegentlich uns zur Abwechslung auch knufften und pufften, anders ausgesehen habe. Aber wenn Sie in den letzten Jahren einmal mit einem Blick auf mich Acht gegeben hätten, wäre Ihren Augen vielleicht aufgegangen, dass ich schon seit längerer Zeit so aussehe. – Nein, jetzt schüttet's, wie man bei uns sagt, Schusterjungen, da behalten Sie keinen trockenen Faden.«
Nicht nur die Füsse der Sprecherin hatten auf eine Erneuerung der Ungeduld in ihr oder was es sonst sein mochte, hingedeutet, auch in den Thonfall ihrer Stimme war ein bischen von lehrhaft unmuthiger Anzüglichkeit gerathen und Norbert dabei von einem Gefühl überkommen worden, dass er Gefahr laufe, etwas in die Rolle eines ausgescholtenen und auf den Mund geschlagenen grossen Schuljungen zu verfallen. Das liess ihn mechanisch noch einmal nach einem Ausweg zwischen den Pfeilern suchen, und auf seine Bewegung, durch welche er diesen Antrieb kundgegeben, hatte sich die letzte, gleichmüthig nachgefügte Aeusserung Fräulein Zoës bezogen. Und allerdings in unanfechtbar zutreffender Weise, denn für das, was sich jetzt ausserhalb des Schutzdaches zutrug, war ›schütten‹ eigentlich eine gelinde Bezeichnung. Ein tropischer Wassersturz, wie er sich nur selten einmal des sommerlichen Durstes der campanischen Gefilde erbarmte, schoss senkrecht herunter, rauschte, als ergiesse sich das Tyrrhenische Meer vom Himmel her auf die Villa des Diomedes, und stand andrerseits wie eine feste, aus Milliarden nussgrosser und perlenhaft blinkender Tropfen zusammengefügte Mauer da. Das machte in der Tat ein Entkommen in die freie Luft hinaus zur Unmöglichkeit, zwang Norbert Hanold, in der Schulstube des Porticus zu verbleiben, und die junge Lehrmeisterin mit dem feinen, klugen Gesicht benützte diesen Riegelverschluss zu einer noch weiteren Fortsetzung ihrer pädagogischen Erörterungen, indem sie nach einer kurzen Pause fortfuhr:
»Damals, so bis um die Zeit, in der man uns, ich weiss nicht weshalb, Backfische titulirt, hatte ich mir eigentlich eine merkwürdige Anhänglichkeit an Sie angewöhnt und glaubte, ich könnte nie einen mir angenehmeren Freund auf der Welt finden. Mutter und Schwester oder Bruder hatte ich ja nicht, meinem Vater war eine Blindschleiche in Spiritus bedeutend interessanter als ich, und etwas muss man, wozu ich auch ein Mädchen rechne, wohl haben, womit man seine Gedanken und was sonst mit ihnen zusammenhängt beschäftigen kann. Das waren also Sie damals; doch als die Alterthumswissenschaft über Sie gekommen war, machte ich die Entdeckung, dass aus dir – entschuldigen Sie, aber Ihre schickliche Neuerung klingt mir doch zu abgeschmackt und passt auch nicht zu dem, was ich ausdrücken will – ich wollte sagen, da stellte sich heraus, dass aus dir ein unausstehlicher Mensch geworden war, der, wenigstens für mich, keine Augen mehr im Kopf, keine Zunge mehr im Mund und keine Erinnerung mehr da hatte, wo sie mir an unsere Kindheitsfreundschaft sitzengeblieben war. Darum sah ich wohl anders aus als früher, denn wenn ich ab und zu in einer Gesellschaft mit dir zusammenkam, noch im letzten Winter einmal, sahst du mich nicht, und noch weniger bekam ich deine Stimme zu hören, worin übrigens keine Auszeichnung für mich lag, weil du's mit allen Andern ebenso machtest. Ich war Luft für dich, und du warst mit deinem blonden Haarschopf, an dem ich dich früher oft gezaust, so langweilig, vertrocknet und mundfaul wie ein ausgestopfter Kakadu und dabei so grossartig wie ein – Archäopteryx heisst das ausgegrabene vorsintflutliche Vogelungetüm ja wohl. Nur dass dein Kopf eine ebenfalls so grossartige Phantasie beherbergte, hier in Pompeji mich auch für etwas Ausgegrabenes und wieder lebendig Gewordenes anzusehn – das hatte ich nicht bei dir vermuthet, und als du auf einmal ganz unerwartet vor mir standest, kostete es mich zuerst ziemliche Mühe, dahinterzukommen, was für ein unglaubliches Hirngespinst deine Einbildung sich zurechtgearbeitet hatte. Dann machte mir's Spass und gefiel mir auch trotz seiner Tollhäusigkeit nicht so übel. Denn, wie gesagt, das hatte ich bei dir nicht vermuthet.«

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