Auch in dies war die Vesuvasche eingedrungen, und man hatte hier in ihr die Skelette von achtzehn Frauen und Kindern gefunden; Schutz suchend, waren sie mit einigen hastig zusammengerafften Nahrungsmitteln in das halbunterirdische Gelass geflüchtet und die trügerische Zuflucht allen zur Gruftstatt geworden. An anderer Stelle lag der muthmassliche, namenlose Herr des Hauses gleichfalls erstickt auf dem Boden hingestreckt; er hatte sich durch die verschlossene Gartenthür retten wollen, denn er hielt den Schlüssel zu ihr in den Fingern. Neben ihm kauerte ein anderes Gerippe, wahrscheinlich das eines Dieners, der eine beträchtliche Anzahl goldener und silberner Münzen mit sich getragen. Von der erhärteten Asche waren die Körperformen der Verunglückten erhalten gewesen; im Museo Nazionale in Neapel ward unter Glas der hier aufgefundene genaue Abdruck des Halses, der Schultern und des schönen Busens eines jungen, mit florartig feinem Gewand bekleideten Mädchens bewahrt.
Die Villa des Diomedes bildete wenigstens einmal unerlässlich das Wegziel für jeden pflichtgetreuen Pompeji-Besucher, doch jetzt um die Mittagszeit liess sich bei ihrer ziemlich weiten räumlichen Abgeschiedenheit mit grosser Sicherheit annehmen, dass keinerlei Neugier sich in ihr aufhalte, und so war sie Norbert Hanold als geeignetster Zufluchtsort für sein neuestes Kopfbedürfnis erschienen. Das verlangte dringlichst nach grabesartiger Einsamkeit, athemloser Stille und unbeweglicher Ruhe; wider die letztere aber erhob eine treibende Unruhe in seinem Gefässsystem einen energischen Gegenanspruch, und er hatte zwischen den beiden Forderungen eine Uebereinkunft schliessen müssen, dass der Kopf die seinige zu behaupten suchte, dagegen den Füssen freigab, ihrem Drang Folge zu leisten. So wanderte er seit seiner Hierherkunft rundum durch den Porticus; ihm gelang dabei, das körperliche Gleichgewicht zu bewahren, und er mühte sich, sein geistiges in den gleichen Normalzustand zu versetzen. Das aber erwies sich in der Ausführung schwieriger als in der Absicht; allerdings stand als unanzweifelbar vor seiner Erkenntnis, er sei völlig ohne Sinn und Verstand gewesen zu glauben, dass er mit einer mehr oder weniger leiblich wieder lebendig gewordenen jungen Pompejanerin beisammensitze, und diese deutliche Einsicht seiner Verrücktheit bildete unstreitig einen wesentlichen Fortschritt auf dem Rückweg zur gesunden Vernunft. Doch fand diese sich damit entschieden noch nicht in ihre ordnungsmässige Verfassung zurückgebracht, denn wenn ihr auch aufgegangen war, die Gradiva sei nur ein todtes Steinbild, so stand trotzdem gleicherweise ausser Zweifel, dass sie noch lebte. Dafür war ein unumstösslicher Beweis beigebracht; nicht er allein, auch andere sahen sie, wussten, dass sie Zoë hiess, und sprachen mit ihr als einer ihnen gleichartigen Leibhaftigkeit. Andrerseits aber wusste sie auch seinen Namen, und das konnte wieder nur einer übernatürlichen Befähigung ihres Wesens entstammen; diese Doppelnatur blieb auch für die in den Kopf einziehende Vernunft unenträthselbar. Doch gesellte sich der unvereinbaren Zwiespaltigkeit eine anähnelnde in ihm selbst hinzu, denn er hegte den inständigen Wunsch, vor zweitausend Jahren hier in der Villa des Diomedes mitverschüttet worden zu sein, damit er nicht Gefahr laufe, der Zoë-Gradiva nochmals irgendwo zu begegnen; zugleich indess klopfte ein ausserordentlich freudiges Gefühl in ihm, dass er noch lebte und dadurch instand gesetzt ward, irgendwo noch wieder mit ihr zusammenzutreffen. Das drehte sich in einem vulgären, doch zutreffenden Vergleich wie ein Mühlenrad durch seinen Kopf herum, und ebenso lief er anhaltlos rundum durch den langen Porticus, der ihm nicht zu einer Aufhellung der Widersprüche verhalf. Im Gegentheil rührte ihn eine undeutliche Empfindung an, dass sich alles nur noch immer mehr um ihn und in ihm verdunkle.
Da prallte er plötzlich einmal, eine der vier Ecken des Pfeilerganges umbiegend, zurück. Auf ein halbes Dutzend Schritte entfernt vor seinem Gesicht sass ziemlich erhöht auf einem abgebrochenen Mauerstück eines der jungen Mädchen, die hier in der Asche den Tod gefunden.
Nein, das war ein Unsinn, den seine Vernunft abgethan. Auch seine Augen und noch etwas Anderes, nicht mit einem Namen Belegtes in ihm erkannten es. Die Gradiva war's, sie sass auf dem Steinrest wie sonst auf der Stufe, nur sahen, da jener beträchtlich höher war, ihre frei herabhängenden schmalen Füsse in den sandfarbigen Schuhen bis an das zierliche Knöchelgelenk unter dem Kleidsaum hervor.

Mit instinktiver erster Bewegung wollte Norbert zwischen zwei Pfeilern durch den Gartenraum hinaus fortlaufen; das, wovor er sich seit einer halben Stunde am meisten auf der Welt fürchtete, war jählings eingetreten, sah ihn mit den hellen Augen und darunter mit Lippen an, die nach seiner Empfindung im Betriff standen, in ein spöttisches Lachen auszubrechen. Doch thaten sie's nicht, sondern die bekannte Stimme klang nur ruhig von ihnen her: »Draussen wirst du nass.«
Nun sah er's zum erstenmal, es regnete; davon war's so dunkel geworden. Das gereichte fraglos allem Pflanzenwachstum um und in Pompeji zum Vortheil, aber anzunehmen, dass ein Mensch des nämlichen dadurch theilhaft werde, enthielt eine Lächerlichkeit, und Norbert Hanold scheute augenblicklich weit mehr als vor einer Todesgefahr davor zurück, sich lächerlich zu machen. Deshalb gab er unwillkürlich den Versuch davonzukommen auf, stand rathlos da und sah auf die beiden Füsse, die jetzt, als ob sie etwas in eine Ungeduld geriethen, leicht hin und her schlenkerten. Und da auch dieser Anblick nicht grade so klärend auf seine Gedanken einwirkte, dass er einen sprachlichen Ausdruck für sie finden konnte, nahm die Besitzerin der zierlichen Füsse nochmals das Wort: »Wir wurden vorhin unterbrochen, du wolltest mir etwas von Fliegen erzählen – ich dachte mir, dass du hier wissenschaftliche Untersuchungen anstelltest – oder von einer Fliege in deinem Kopf. Ist dir's geglückt, sie auf meiner Hand zu erwischen und umzubringen?«

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