Was die Besitzerin jener warmen Hand betraf, so war sie jedenfalls von dem unvorgesehenen und um die Mittagsstunde nicht erwarteten Besuch in der Casa di Meleagro auch, und nach ihrem allerersten Mienenausdruck nicht in ausschliesslich angenehmer Weise, überrascht worden. Doch liess vom letzteren schon der nächste Augenblick in ihrem klugen Gesicht keine Spur mehr erkennen, sie stand hurtig auf, trat der jungen Dame entgegen und versetzte, ihr die Hand reichend: »Das ist ja wirklich hübsch, Gisa, der Zufall hat zuweilen auch einen netten Einfall. Also das ist seit vierzehn Tagen dein Mann? Ich freue mich, ihn mit Augen kennenzulernen, und brauche nach eurem beiderseitigen Aussehen offenbar meinen Glückwunsch nicht nachträglich zu einer Condolation umzuändern. Paare, bei denen das angebracht wäre, pflegen um diese Zeit in Pompeji bei Tisch zu sitzen; ihr seid vermuthlich am Ingresso in Quartier, da suche ich euch heut' nachmittag auf. Nein, geschrieben habe ich dir nichts; das wirst du mir nicht übelnehmen, denn du siehst, meine Hand geniesst nicht die Berechtigung der deinigen, sich durch einen Ring auszuzeichnen. Die Luft hier wirkt ausserordentlich kräftig auf die Einbildung, das merke ich an dir; besser ist's ja freilich, als wenn sie zu nüchtern machte. Der junge Herr, der eben fortging, laborirt auch an einem merkwürdigen Hirngespinst, mir scheint, er glaubt, dass ihm eine Fliege im Kopf summt; nun, irgendeine Kerbtierart hat wohl Jeder drin. Pflichtmässig verstehe ich mich etwas auf Entomologie und kann deshalb bei solchen Zuständen ein bischen von Nutzen sein. Mein Vater und ich wohnen im Sole, er bekam auch einen plötzlichen Anfall und dazu den guten Einfall, mich mit hierher zu nehmen, wenn ich mich auf meine eigene Hand in Pompeji unterhalten und an ihn keine Anforderungen stellen wollte. Ich sagte mir, irgendetwas Interessantes würde ich wohl schon allein hier ausgraben. Freilich, auf den Fund, den ich gemacht – ich meine das Glück, dich zu treffen, Gisa, hatte ich mit keinem Gedanken gerechnet. Aber ich verschwatze die Zeit, wie's bei einer alten Freundin so geht – ganz uralt allerdings sind wir doch grade noch nicht. Mein Vater kommt um zwei Uhr aus der Sonne an den Sonnentisch, da muss ich seinem Appetit Gesellschaft leisten und darum leider augenblicklich auf deine weitere verzichten. Ihr werdet die Casa di Meleagro ja auch ohne mich besichtigen können; ich verstehe das zwar nicht, aber ich denke es mir. Favorisca signor! A rivederci, Gisetta! So viel Italienisch habe ich schon gelernt, und viel mehr braucht man eigentlich nicht. Was sonst noch nöthig ist, schöpft man aus sich selbst – bitte, nein, senza complimenti!«
Dies letzte Ersuchen der Sprecherin bezog sich auf eine höfliche Bewegung, mit der ihr der junge Eheherr das Geleit geben zu wollen schien. Sie hatte sich höchst lebendig, äusserst unbefangen und ganz den Umständen der unerwarteten Begegnung mit einer nahstehenden Freundin entsprechend ausgedrückt, doch mit einer ausserordentlichen Schnelligkeit, die für die Dringlichkeit ihrer Aussage, dass sie sich gegenwärtig nicht länger aufhalten könne, Zeugnis ablegte. Und so waren nicht mehr als ein paar Minuten seit dem eilfertigen Abgang Norbert Hanolds verflossen, wie sie gleichfalls aus dem Hause des Meleager in die Strada di Mercurio hinaustrat. Diese lag, der Tageszeit gemäss, einzig da und dort von einer schwänzelnden Lacerte belebt da, und für ein paar Augenblicke gab sich die an ihrem Rande Innehaltende offenbar einem kurz überwägenden Nachdenken hin. Dann schlug sie hurtig die nächste Richtung dem Thor des Hercules zu ein, überschritt an der Kreuzung des Vicolo di Mercurio und der Strada di Sallustio mit dem anmuthig-behenden Gradiva-Gang die Trittsteine und gelangte so sehr rasch bis an die beiden Seitenmauerreste der Porta Ercolanese. Hinter dieser dehnte sich lang die Gräberstrasse abwärts, doch nicht weissblendend und von glitzernden Strahlen verhängt wie vor vierundzwanzig Stunden, als der junge Archäologe ebenso mit suchenden Augen von hier durch sie hinuntergeblickt hatte. Die Sonne schien heut' von einem Gefühl überkommen zu sein, dass sie am Vormittag doch des Guten ein wenig zuviel gethan habe; sie hielt einen grauen Schleier vor sich gezogen, an dessen Verdichtung sichtlich noch weitergearbeitet wurde, und infolge davon hoben die hin und wieder an der Strada de' Sepolcri aufgewachsenen Cypressen sich ungewöhnlich scharf und schwarz gegen den Himmel ab. Ein anderes Bild als gestern war's, der geheimnisvoll Alles überflimmernde Glanz fehlte ihm; auch die Strasse befliss sich einer gewissen trübsinnigen Deutlichkeit, hatte gegenwärtig ein ihrem Namen Ehre machendes todtes Gesicht angenommen. Dieser Eindruck ward durch eine vereinzelte Regung an ihrem Ende nicht aufgehoben, sondern eher noch erhöht; es sah aus, als ob dort in der Umgegend der Villa des Diomedes eine Schattengestalt ihren Tumulus aufsuche und unter einem der Gräberdenkmäler verschwinde.
Nicht der nächste Weg vom Haus des Meleager zum Albergo del Sole war's, vielmehr eigentlich die grade entgegengesetzte Richtung dorthin, aber die Zoë-Gradiva musste nachträglich zur Einsicht gekommen sein, dass die Zeit doch noch nicht so übermässig zum Mittagstisch dränge. Denn nach einem ganz flüchtigen Anhalten am Herculestor ging sie, die Sohle des zurückbleibenden Fusses jedesmal beinahe senkrecht emporrichtend, über die Lavaplatten der Gräberstrasse weiter.

Die ›Villa des Diomedes‹ – äusserst beliebig von den Heutlebenden so nach einem Grabmal benannt, das ein ›Libertus‹ Marcus Arrius Diomedes, der zu einem Vorstand des früher hier gelegenen Stadttheiles aufgerückt gewesen, in der Nähe für seine vormalige Gebieterin Arria sowie für sich und seine Angehörigen errichtet hatte – war ein sehr umfänglicher Bau und barg ein nicht von der Phantasie erfabeltes, sondern recht schauerlich-wirkliches Stück der Geschichte vom Untergang Pompejis in sich. Eine Wirrnis weitläufiger Trümmerreste machte den oberen Theil aus, darunter lag vertieft ein ungemein grosser, ringsum von einem erhalten gebliebenen Pfeilerporticus umschlossener Gartenraum mit kargen Ueberbleibseln eines Brunnens und kleinen Tempels in der Mitte, und noch weiter abwärts führten zwei Treppen in ein rundlaufendes, nur matt von trübem Dämmerlicht angehelltes Kellerganggewölbe nieder.

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