Das konnte er nicht, doch nahm's ihn jetzt wunder, dass sie von einer so unendlich fernen Vergangenheit sprach, denn die Stärkung des Kopfes durch das Nährmittel hatte eine Umänderung in seinem Gehirn nach sich gezogen. Die Annahme, sie sei schon seit so langer Zeit hier in Pompeji umhergegangen, wollte sich nicht mehr mit der gesunden Vernunft in Einklang bringen lassen; Alles an ihr erschien ihm gegenwärtig so, als ob es kaum mehr als zwanzig Jahre alt sein könne. Die Formen und Farbe des Gesichtes, das überaus reizvolle, braungewellte Haar und die makellosen Zähne; auch die Vorstellung, das helle, von keinem Schatten eines Fleckens beeinträchtigte Gewand habe ungezählte Jahre in der Bimsteinasche gelegen, enthielt im höchsten Masse Widerspruchsvolles. Norbert ward von einem Empfindungszweifel angefasst, ob er eigentlich in wachem Zustande hier sitze oder nicht wahrscheinlicher in seiner Studirstube, wo er bei der Betrachtung des Bildes der Gradiva von Schlaf überkommen worden, geträumt habe, dass er nach Pompeji gefahren, mit ihr als einer noch Lebenden zusammengetroffen sei, und weiter träume, noch so an ihrer Seite in der Casa di Meleagro zu sitzen. Denn dass sie wirklich noch lebte oder wieder lebendig geworden sei, konnte sich doch wohl nur in einem Traume zutragen – die Naturgesetze erhoben dagegen einen Einwand –
Seltsam freilich war's, dass sie eben gesagt hatte, sie habe schon vor zweitausend Jahren einmal so ihr Brod mit ihm getheilt. Davon wusste er nichts und konnte doch darauf auch im Traum nicht gerathen –
Ihre linke Hand lag mit den schmalen Fingern ruhig auf ihren Knien – die trug den Schlüssel zur Lösung eines unentwirrbaren Räthsels in sich –
Auch vor dem Oecus der Casa di Meleagro machte die Frechheit der gemeinen Stubenfliege nicht halt; an der gelben Säule ihm gegenüber sah er eine nach ihrer nichtswürdigen Gepflogenheit in suchender Gier auf und ab rennen; nun schwirrte sie dicht an seiner Nase vorbei.
Er musste doch irgend etwas auf ihre Frage, ob er sich nicht an das schon früher gemeinsam mit ihr verzehrte Brod erinnere, antworten und brachte, jäh herausgestossen, vom Mund: »Waren die Fliegen damals schon ebenso teuflisch wie jetzt, dass sie dich bis zum Lebensüberdruss gemartert haben?«
Sie blickte ihn mit einem völlig begrifflosen Erstaunen an und wiederholte: »Die Fliegen? Hast du jetzt eine Fliege im Kopf?«
Da sass auf einmal das schwarze Ungeheuer auf ihrer Hand, die nicht durch die leiseste Regung kundgab, dass sie etwas davon verspüre. Bei dem Anblick aber mischten sich in dem jungen Archäologen zwei gewaltsame Antriebe zur Ausführung einer und der nämlichen Handlung ineinander. Seine Hand fuhr plötzlich in die Höh' und klatschte mit einem keineswegs gelinden Schlag auf die Fliege und die Hand seiner Nachbarin herunter.
Mit diesem Zuschlag erst kam Besinnung, Bestürzung und doch auch ein freudiger Schreck über ihn. Er hatte den Streich nicht durch leere Luft hindurch geführt, auch nicht auf etwas Kaltes und Starres, sondern auf eine unzweifelhaft wirkliche, lebendige und warme Menschenhand, die einen Moment lang, augenscheinlich vollständig verblüfft, regungslos unter der seinigen liegen blieb. Doch dann zog sie sich mit einem Ruck fort, und der Mund über ihr sagte: »Du bist doch offenbar verrückt, Norbert Hanold.«
Der Name, von dem er niemand in Pompeji Mittheilung gemacht, ging der Gradiva so glatt, zweifellos und deutlich über die Lippen, dass der Inhaber desselben noch stärker erschrocken von der Stufe aufflog. Zugleich ertönten im Säulengang unvermerkt nah herangekommene Fusstritte, vor verworrenem Blick tauchten ihm die Gesichter des sympathischen Liebespaars aus der Casa di Fauno auf, und die junge Dame rief mit einem Ton höchlicher Ueberraschung: »Zoë! du auch hier? Und auch auf der Hochzeitsreise? Davon hast du mir ja kein Wort geschrieben!«

Norbert befand sich wieder draussen vor dem Haus des Meleager in der Strada di Mercurio. Wie er dorthin gekommen, war ihm nicht klar, es musste instinktiv geschehen sein, und zwar von einer blitzartigen Erleuchtung in ihm veranlasst, das einzige sei's, was er thun könne, um nicht eine überaus lächerliche Figur darzustellen. Vor dem jungen Paar, mehr noch vor der von diesem freundschaftlich Begrüssten, die ihn eben mit seinem Vor- und Zunamen angeredet, und am allermeisten vor sich selbst. Denn wenn er auch nichts begriff, war ihm doch eines als ganz unanfechtbar aufgegangen. Die Gradiva mit der nicht wesenlosen, sondern körperhaft wirklichen, warmen Menschenhand hatte eine zweifellose Wahrheit ausgesprochen, sein Kopf war in den beiden letzten Tagen in einem Zustand völliger Verrücktheit gewesen. Und zwar keineswegs in unklugem Traum, vielmehr mit so wachen Augen und Ohren, als sie zu ihrer vernünftigen Anwendung Menschen von der Natur mitgegeben wurden. Wie das sich derartig zugetragen habe, entzog sich, gleich allem Uebrigen, seinem Verständnis; nur dunkel rührte ihn eine Empfindung an, ein sechster Sinn müsse dabei im Spiel gewesen sein, der, in solcher Weise zur Oberhand gelangend, etwas sonst vielleicht Schätzenswerthes zum Gegentheil umwandte. Um darüber durch einen Nachdenkungsversuch wenigstens ein bischen mehr Aufschluss zu gewinnen, war ein in unbesuchter Stille abgelegener Ort durchaus erforderlich; zunächst aber trieb es Norbert an, sich möglichst rasch aus dem Bereich der Augen, Ohren und sonstigen Sinne zu entfernen, die ihre Naturmitgift so benutzten, wie's dem eigentlichen Gebrauchszweck entsprach.

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