Das konnte er nicht,
doch nahm's ihn jetzt wunder, dass sie von einer so unendlich fernen Vergangenheit
sprach, denn die Stärkung des Kopfes durch das Nährmittel hatte
eine Umänderung in seinem Gehirn nach sich gezogen. Die Annahme,
sie sei schon seit so langer Zeit hier in Pompeji umhergegangen, wollte
sich nicht mehr mit der gesunden Vernunft in Einklang bringen lassen;
Alles an ihr erschien ihm gegenwärtig so, als ob es kaum mehr als
zwanzig Jahre alt sein könne. Die Formen und Farbe des Gesichtes,
das überaus reizvolle, braungewellte Haar und die makellosen Zähne;
auch die Vorstellung, das helle, von keinem Schatten eines Fleckens beeinträchtigte
Gewand habe ungezählte Jahre in der Bimsteinasche gelegen, enthielt
im höchsten Masse Widerspruchsvolles. Norbert ward von einem Empfindungszweifel
angefasst, ob er eigentlich in wachem Zustande hier sitze oder nicht wahrscheinlicher
in seiner Studirstube, wo er bei der Betrachtung des Bildes der Gradiva
von Schlaf überkommen worden, geträumt habe, dass er nach Pompeji
gefahren, mit ihr als einer noch Lebenden zusammengetroffen sei, und weiter
träume, noch so an ihrer Seite in der Casa di Meleagro zu sitzen.
Denn dass sie wirklich noch lebte oder wieder lebendig geworden sei, konnte
sich doch wohl nur in einem Traume zutragen – die Naturgesetze erhoben
dagegen einen Einwand – Norbert befand sich wieder draussen vor dem Haus des Meleager in der Strada di Mercurio. Wie er dorthin gekommen, war ihm nicht klar, es musste instinktiv geschehen sein, und zwar von einer blitzartigen Erleuchtung in ihm veranlasst, das einzige sei's, was er thun könne, um nicht eine überaus lächerliche Figur darzustellen. Vor dem jungen Paar, mehr noch vor der von diesem freundschaftlich Begrüssten, die ihn eben mit seinem Vor- und Zunamen angeredet, und am allermeisten vor sich selbst. Denn wenn er auch nichts begriff, war ihm doch eines als ganz unanfechtbar aufgegangen. Die Gradiva mit der nicht wesenlosen, sondern körperhaft wirklichen, warmen Menschenhand hatte eine zweifellose Wahrheit ausgesprochen, sein Kopf war in den beiden letzten Tagen in einem Zustand völliger Verrücktheit gewesen. Und zwar keineswegs in unklugem Traum, vielmehr mit so wachen Augen und Ohren, als sie zu ihrer vernünftigen Anwendung Menschen von der Natur mitgegeben wurden. Wie das sich derartig zugetragen habe, entzog sich, gleich allem Uebrigen, seinem Verständnis; nur dunkel rührte ihn eine Empfindung an, ein sechster Sinn müsse dabei im Spiel gewesen sein, der, in solcher Weise zur Oberhand gelangend, etwas sonst vielleicht Schätzenswerthes zum Gegentheil umwandte. Um darüber durch einen Nachdenkungsversuch wenigstens ein bischen mehr Aufschluss zu gewinnen, war ein in unbesuchter Stille abgelegener Ort durchaus erforderlich; zunächst aber trieb es Norbert an, sich möglichst rasch aus dem Bereich der Augen, Ohren und sonstigen Sinne zu entfernen, die ihre Naturmitgift so benutzten, wie's dem eigentlichen Gebrauchszweck entsprach. |