So bis zum Lippenrande
voll war er von diesem Vorhaben der Empörung, dass es ihm auch vom
Mund flog, wo durchaus keinerlei Anlass dafür zutage lag. Denn wie
er mit stürmischer Eile die Entfernung bis zum Oecus hinter sich
gebracht hatte, stiess er ungestüm aus: »Bist du allein?!«,
obwohl der Augenschein keinen Zweifel darüber beliess, dass die Gradiva
grad ebenso einsam wie an den beiden vorigen Tagen auf der Stufe dasass.
Sie sah ihn verwundert an und erwiderte: »Wer sollte denn nach Mittag
noch hier sein? Da sind die Leute alle hungrig und sitzen beim Essen.
Das hat die Natur für mich sehr erfreulich so eingerichtet.«
Seine überwallende Aufregung konnte sich jedoch so rasch nicht beschwichtigen
und liess ihm ohne Wissen und Willen noch weiter die Muthmassung entfahren,
die eben draussen mit der Stärke einer Gewissheit über ihn gerathen;
denn, setzte er, zwar einigermassen widersinnig, hinzu, es lasse sich
ja eigentlich gar nicht anders denken. Ihre hellen Augen hielten sich
in sein Gesicht gerichtet, bis er zu Ende gesprochen, dann machte sie
mit einem Finger einmal eine Bewegung gegen ihre Stirn und sagte: »Du
–.« Danach aber fuhr sie fort: »Mir scheint's grade
genug, dass ich nicht von hier wegbleibe, obgleich ich erwarten muss,
dass du um diese Zeit hieherkommst. Aber der Platz gefällt mir einmal
gut, und ich sehe, du hast mir mein Skizzenbuch, das ich gestern vergessen
hatte, mitgebracht. Ich danke dir für deine bessere Achtsamkeit.
Willst du's mir nicht geben?«
Die letzte Frage war wohlbegründet, denn er traf keinerlei Anstalt
dazu, sondern blieb unbeweglich auf demselben Fleck stehen. In seinem
Kopf dämmerte es, dass er sich eine ungeheure Dummheit ein- und ausgebildet,
dazu auch noch ausgesprochen habe; um sie, soweit es möglich fiel,
wiedergutzumachen, trat er nun hastig vor, reichte der Gradiva das Buch
hin und setzte sich zugleich mechanisch neben ihr auf die Stufe nieder.
Einen Blick auf seine Hand werfend, sagte sie: »Du scheinst ein
Freund von Rosen zu sein.«
Bei den Worten kam's ihm auf einmal zum Bewusstwerden, was ihn zum Abpflücken
und Mitnehmen derselben veranlasst habe, und er entgegnete: »Ja
– doch, ich habe sie nicht für mich – du sprachst gestern
– und auch heut' nacht sagte mir's Jemand – man gäbe
sie im Frühling –«
Sie dachte merklich kurz nach, ehe sie antwortete: »Ach so –
ja, ich erinnere mich – Anderen, meinte ich, gäbe man nicht
Asphodil, sondern Rosen. Das ist artig von dir; es scheint, du hast deine
Ansicht von mir ein wenig verbessert.«
Ihre Hand streckte sich zum Empfang der rothen Blumen aus, und diese ihr
jetzt hinreichend, versetzte er: »Ich glaubte zuerst, du könntest
nur in der Mittagsstunde hier sein, aber mir ist wahrscheinlich geworden,
dass du auch zu anderer Zeit – das macht mich sehr glücklich
–«
»Warum macht dich das glücklich?«
Ihr Gesicht drückte Verständnislosigkeit aus, nur um ihre Lippen
ging ein kaum merkbar leises Zucken. Verwirrt brachte er hervor: »Es
ist schön, lebendig zu sein – mir ist dies früher nie
so – ich wollte dich noch fragen –«
Er suchte in seiner Brusttasche und setzte, das Gefundene herausziehend,
hinzu: »Hat diese Spange ehemals dir gehört?«
Ihr Gesicht bewegte sich ein klein wenig danach vor, doch sie schüttelte
den Kopf. »Nein, ich kann mich nicht erinnern. Der Zeitrechnung
nach wär's sonst wohl nicht unmöglich, denn sie wird vermuthlich
erst aus diesem Jahr herstammen. Hast du sie vielleicht in der Sonne gefunden?
Bekannt kommt die schöne grüne Patina mir doch vor, als hätte
ich sie schon gesehen.«
Unwillkürlich wiederholte er: »In der Sonne – warum in
der Sonne?«
»Sole heisst sie hier, die bringt mancherlei von der Art zustande.
Sollte die Spange nicht einem jungen Mädchen gehört haben, das
mit einem Begleiter zusammen, ich glaube in der Umgegend des Forums, verunglückt
sein soll.«
»Ja, der seine Arme um sie geschlungen hielt –«
»Ach so –«
Die beiden Wörtchen lagen offenbar der Gradiva als eine Lieblings-Interjection
auf der Zunge, und sie hielt danach einen Augenblick inne, ehe sie hinzufügte:
»Deshalb meintest du, ich hätte sie an mir getragen. Und hätte
das dich etwa – wie sagtest du vorhin? – dich unglücklich
gemacht?«
Ihm war anzusehen, dass er sich ausserordentlich erleichtert fühle,
und vernehmlich klang's auch aus seiner Antwort: »Ich bin sehr froh
darüber – denn die Vorstellung, dass dir die Spange gehört
habe, verursachte mir einen – einen Schwindel im Kopf –«
»Dazu scheint er bei dir etwas Neigung zu hegen. Hast du vielleicht
heut' morgen zu frühstücken vergessen? Das verstärkt leicht
solche Anfälle noch; ich leide nicht daran, aber sehe mich vor, da
es mir am besten zusagt, um die Mittagszeit hier zu sein. Wenn ich dir
von dem misslichen Zustand deines Kopfes dadurch ein bischen abhelfen
kann, dass ich meinen Vorrath mit dir theile –«
Sie zog ein in Seidenpapier eingewickeltes Weissbrot aus ihrer Kleidertasche,
brach es durch, legte ihm die eine Hälfte in seine Hand und begann
die andere mit sichtlichem Appetit zu verzehren. Dabei blitzten ihre ausnehmend
zierlichen und tadellosen Zähne nicht nur mit einem perlenden Glanz
zwischen den Lippen auf, sondern verursachten beim Durchbeissen der Rinde
auch einen leicht krachenden Ton, so dass sie durchaus den Eindruck erregten,
nicht wesenlose Scheingebilde, sondern von wirklicher körperhafter
Beschaffenheit zu sein. Im Uebrigen hatte sie mit ihrer Vermuthung bezüglich
des versäumten Frühstückes wohl das Richtige getroffen;
mechanisch ass er ebenfalls und empfand eine entschieden günstige
Wirkung davon auf die Klärung seiner Gedanken ausgeübt. So sprachen
sie Beide ein Weilchen nicht weiter, sondern gaben sich schweigend der
gleichen nützlichen Beschäftigung hin, bis die Gradiva sagte:
»Mir ist's, als hätten wir schon vor zweitausend Jahren einmal
so zusammen unser Brod gegessen. Kannst du dich nicht darauf besinnen?«
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