Der vorschreitende Tag war noch heisser als die beiden voraufgegangenen, die Sonne schien es heut' auf eine ganz ausserordentliche Leistung abgesehen zu haben und machte nicht nur in archäologischer, auch in praktischer Hinsicht bedauerlich, dass die Wasserleitung Pompejis seit zwei Jahrtausenden zerborsten und ausgetrocknet dalag. Strassenbrunnen erhielten da und dort ihr Gedächtnis fort und legten ingleichem noch Zeugnis von ihrer umstandslosen Benützung durch vorübergekommene durstige Leute ab. Sie hatten, um sich an das verschwundene Mündungsrohr vorzubücken, eine Hand auf den marmornen Brunnenrand gestützt und diesen, wie der Tropfen den Stein höhlte, allmählich an der Stelle zu einer Einmuldung ausgeschürft; Norbert machte diese Wahrnehmung an einer Ecke der Strada della Fortuna, ihm stieg daraus die Vorstellung auf, dass auch die Hand der Zoë-Gradiva sich ehemals hier so aufgestützt haben möge, und unwillkürlich legte seine Hand sich in die kleine Aushöhlung hinein. Doch verwarf er die Annahme sogleich, empfand einen Verdruss über sich selbst, dass er darauf hatte gerathen können. Sie stand in keinem Einklang zu dem Wesen und Benehmen der jungen Pompejanerin aus feingebildetem Hause; Entwürdigendes lag darin, dass sie sich so übergebeugt und ihre Lippen an das nämliche Rohr gelegt haben sollte, aus dem die Plebs mit rohem Munde trank. Im edlen Sinn Schicklicheres, als es sich in ihrem Thun und ihren Bewegungen kundgab, war ihm noch nie zu Gesicht gekommen; ihn überkam's schreckhaft, sie könne ihm den unglaublich verstandwidrigen Einfall ansehen. Denn ihre Augen besassen etwas Eindringliches; ihn hatte ein paarmal das Gefühl angerührt, während seines Zusammenseins mit ihr trachteten sie danach, einen Zugang ins Innere seines Kopfes auszufinden und darin wie mit einer stahlhellen Sonde herumzusuchen. Er musste deshalb sehr behutsam Acht geben, dass sie nichts Thörichtes in seinen Gedankenvorgängen antrafen.
Noch immer war's eine Stunde bis Mittag, und um sie zu verbringen, ging er quer über die Strasse in die Casa del Fauno, das umfänglichste und stattlichste aller ausgegrabenen Häuser, hinein. Wie kein Anderes, besass es ein doppeltes Atrium und zeigte in dem bedeutendsten inmitten des Impluviums den leeren Sockel, auf dem die berühmte Statue des tanzenden Fauns, nach dem es benannt worden, gestanden hatte. Doch ward bei Norbert Hanold nicht das geringste Bedauern rege, dass sich dies von der Wissenschaft am höchsten geschätzte Kunstwerk nicht mehr hier befinde, sondern zugleich mit dem Mosaikbilde der Alexanderschlacht ins Museo Nazionale nach Neapel überführt worden sei; er trug keinerlei weitere Absicht noch Wunsch in sich, als die Zeit weiterrücken zu lassen, und wanderte zu diesem Zweck planlos durch das grosse Gebäude umher. Hinter dem Peristyl öffnete sich ein weiter, von zahlreichen Säulen umfasster Raum, entweder auch eine nochmalige Wiederholung des Peristyls oder als Xystos, Schmuckgarten, angelegt; so erschien's gegenwärtig, denn wie der Oecus der Casa di Meleagro war er ganz mit blühendem Mohn überdeckt. In abwesenden Gedanken schritt der Besucher durch die stille Verlassenheit.
Dann aber hielt er einmal stutzend den Fuss an, er befand sich doch nicht allein hier, sein Blick traf in einiger Entfernung auf zwei Gestalten, die zuerst nur den Eindruck von einer erregten, da sie so nah als irgend möglich aneinandergedrängt standen. Sie nahmen ihn nicht gewahr, denn sie waren ganz nur mit sich beschäftigt und mochten sich dabei in dem Winkel durch die Säulen für etwaige andere Augen unentdeckbar gemacht glauben. Wechselseitig sich mit den Armen umschlingend, hielten sie auch ihre Lippen zusammengeschlossen, und der unvermuthete Zuschauer erkannte zu seiner Ueberraschung, es seien der junge Herr und die junge Dame, an denen er gestern abend zum erstenmal auf seiner Reise ein Gefallen gefunden hatte. Für zwei Geschwister aber bedünkten ihn ihr gegenwärtiges Verhalten, die Umarmung und der Kuss von zu langer Andauer, also war es doch ein Liebes- und muthmasslich junges Hochzeitspaar, auch ein August und eine Grete.
Merkwürdigerweise indess geriethen die beiden letzteren Norbert augenblicklich nicht in den Sinn, und der Vorgang rührte ihn durchaus nicht lächerlich oder widerwärtig an, vielmehr erhöhte noch sein Wohlgefallen an den Beiden. Was sie thaten, kam ihm ebenso natürlich wie vollbegreiflich vor, seine Augen hafteten auf dem lebenden Bild mit grösser aufgewertheten Lidern als je auf einem der am höchsten bewunderten antiken Kunstwerke, und gern hätte er sich dieser Betrachtung noch länger überlassen. Doch war's ihm zumut, als sei er unberechtigt in einen geweihten Raum eingedrungen und stehe im Begriff, darin eine geheime Andachtsübung zu stören; die Vorstellung, dabei wahrgenommen zu werden, befiel ihn mit Schreck, er wendete sich hastig um, ging geräuschlos ein Stück auf den Zehen zurück und lief, aus der Hörweite gelangt, beengten Athems und klopfenden Herzens auf den Vicolo del Fauno hinaus.

Als er vor dem Hause des Meleager ankam, wusste er nicht, ob es bereits Mittagsstunde sei, und gerieth auch nicht darauf, seine Uhr danach zu befragen, doch er blieb vor der Thür, unschlüssig eine Weile auf das ›Have‹ des Einganges niederblickend, stehen. Ihn hielt eine Furcht ab hineinzutreten, und sonderbar fürchtete er sich gleicherweise davor, die Gradiva drinnen nicht anzutreffen und sie dort zu finden, denn in seinem Kopf hatte sich während der letzten Minuten festgesetzt, im ersteren Falle halte sie sich anderswo mit irgendeinem jüngeren Herrn auf und im zweiten leiste dieser ihr auf den Stufen zwischen den Säulen Gesellschaft. Gegen den aber empfand er einen Hass noch weit stärker als gegen die Gesamtheit aller gemeinen Stubenfliegen, hatte bis heute nicht für möglich gehalten, dass er einer so heftigen inneren Erregung fähig sein könne. Das Duell, das er immer für eine sinnlose Dummheit angesehen, erschien ihm plötzlich in einem veränderten Lichte; hier ward es zum Naturrecht, das der in seinem eigensten Recht Gekränkte, zu Tod Beleidigte an sich nahm als einzig vorhandenes Mittel, eine befriedigende Vergeltung zu üben oder sich eines zwecklos gewordenen Daseins entäussern zu lassen. So setzte sein Fuss sich mit jäher Bewegung doch zum Eintritt vor; er wollte den frechen Menschen herausfordern und wollte – das drängte sich fast noch gewaltsamer in ihm auf – ihr rückhaltlos zum Ausdruck bringen, dass er sie für etwas Besseres, Edleres, solcher Gemeinschaft nicht fähig gehalten habe –

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