Durch Aussehen und Sprache
kennzeichneten sie sich als Deutsche, ein Er und eine Sie; sie hatten
beide jugendliche, einnehmende und mit einem geistigen Ausdruck begabte
Gesichtszüge; ihr Verhältnis zueinander liess sich nicht entnehmen,
doch schloss Norbert nach einer gewissen Aehnlichkeit auf ein Geschwisterpaar.
Allerdings unterschied das Haar des jungen Mannes sich durch Blondfarbigkeit
von ihrem lichtbraunen; sie trug eine rothe Sorrentiner Rose am Kleid,
deren Anblick an etwas im Gedächtnis des aus seiner Stubenecke Hinüberschauenden
rührte, ohne dass er sich darauf besinnen konnte, was es sei. Die
Beiden waren die ersten ihm auf seiner Reise Begegnenden, von denen er
einen sympathischen Eindruck empfing. Sie redeten, bei einem Fiaschetto
sitzend, miteinander, weder zu laut vernehmbar noch in besorglichem Flüsterton,
augenscheinlich bald über ernsthafte Dinge und bald über heitere,
denn zuweilen ging gleichzeitig um ihre Lippen ein halblachender Zug,
der ihnen hübsch stand und Lust zu einer Antheilnahme an ihrer Unterhaltung
erweckte. Oder vielleicht bei Norbert hätte erwecken können,
wenn er um zwei Tage früher mit ihnen in dem sonst nur von den Anglo-Amerikanern
bevölkerten Raum zusammengetroffen wäre. Doch er fühlte,
was in seinem Kopf vorging, stehe in einem zu starken Gegensatz zu der
fröhlichen Natürlichkeit der Beiden, um die unverkennbar kein
leisester Nebel lag und die zweifellos nicht über die Wesensbeschaffenheit
einer vor zwei Jahrtausenden Verstorbenen tiefgrundig nachsannen, sondern
sich ohne alle Abmühung an einem räthselvollen Problem ihres
Lebens in der gegenwärtigen Stunde freuten. Damit stimmte sein Zustand
nicht zusammen; er kam sich einerseits höchst überflüssig
für sie vor und scheute andrerseits vor dem Versuch, eine Bekanntschaft
mit ihnen anzuknüpfen, zurück, da er eine dunkle Empfindung
hatte, ihre heiteren, hellen Augen könnten ihm durch die Stirnwandung
in seine Gedanken hineingehen und dabei einen Ausdruck annehmen, als ob
sie ihn nicht ganz richtig bei Verstand hielten. So begab er sich zu seinem
Zimmer hinauf, stand noch etwas wie gestern, nach dem mächtigen Purpurmantel
des Vesuv hinüberblickend, am Fenster und legte sich dann zur Ruhe.
Uebermüdet schlief er auch bald ein und träumte, doch merkwürdig
unsinnig. Irgendwo in der Sonne sass die Gradiva, machte aus einem Grashalm
eine Schlinge, um eine Eidechse drin zu fangen, und sagte dazu: »Bitte
halte dich ganz ruhig – die Collegin hat recht, das Mittel ist wirklich
gut, und sie hat es mit bestem Erfolg angewendet –« Beim Aufwachen erinnerte er sich, dass in der Nacht eine Stimme
gesprochen habe, im Frühling gäbe man Rosen, oder eigentlich
ward ihm dies durch die Augen ins Gedächtnis gerufen, da sein aus
dem Fenster gehender Blick drunten auf einen mit rothen Blumen leuchtenden
Strauch fiel. Sie waren von der nämlichen Art wie die, welche die
junge Dame vor der Brust getragen, und als er hinuntergekommen, pflückte
er unwillkürlich ein paar von ihnen ab und roch daran. Es musste
mit den Sorrentiner Rosen in der Tat eine absondere Bewandtnis haben,
denn ihr Duft bedünkte ihn nicht nur wundervoll, sondern auch völlig
neu und fremdartig, und dabei, als ob sie eine etwas lösende Wirkung
in seinem Kopf ausübten. Wenigstens entledigten sie ihn seiner gestrigen
Scheu vor den Thorwächtern, er begab sich vorschriftsmässig
durch den Ingresso nach Pompeji hinein, entrichtete unter einer Vorgabe
den doppelten Betrag des Eintrittsgeldes und schlug rasch Wege ein, die
ihn aus der Nähe der übrigen Besucher davonbrachten. Das kleine
Skizzenbuch aus der Casa di Meleagro trug er nebst der grünen Spange
und den rothen Rosen mit sich, doch zu frühstücken hatte er
über dem Duft der letzteren vergessen, und seine Gedanken befanden
sich nicht in der Gegenwart, sondern ausschliesslich auf die Mittagsstunde
vorausgerichtet. Bis zu der war's indess noch lang, er musste die Wartezeit
verbringen und trat zu dem Behuf bald in dieses, bald in jenes Haus ein,
von dem ihm wahrscheinlich vorkam, dass auch die Gradiva es ehemals öfter
betreten habe oder noch jetzt zuweilen aufsuche – seine Annahme,
dass sie lediglich um Mittag dazu imstande sei, war etwas ins Schwanken
gerathen. Vielleicht stand's ihr auch noch zu anderen Tagesstunden frei,
möglicherweise ebenfalls bei Nacht im Mondschein; verwunderlich bekräftigten
ihm diese Muthmassung die Rosen, wenn er sie einathmend an seine Nase
hielt, und dieser neuen Auffassung kam sein Nachsinnen willfährig
und überzeugungsbereit entgegen. Denn er konnte sich das Zeugnis
zuerkennen, dass er durchaus nicht bei einer vorgefassten Meinung beharre,
vielmehr jeder vernünftigen Einwendung freien Lauf lasse, und eine
solche machte sich hier entschieden, nicht nur logisch, auch ebenso wünschen[s]werth
geltend. Nur gerieth in Frage, ob dann bei einer Begegnung mit ihr auch
die Augen Anderer imstande seien, sie als leibliche Erscheinung wahrzunehmen,
oder ob nur den seinigen die Befähigung dazu innewohne. Das erstere
liess sich nicht abweisen, behauptete sogar die Wahrscheinlichkeit für
sich und wandelte das Wünschenswerthe zum Gegentheil um, versetzte
ihn in eine unmuthig-unruhige Stimmung. Der Gedanke, Andere könnten
sie ebenfalls anreden, sich zu ihr setzen, um eine Unterhaltung mit ihr
zu führen, entrüstete ihn; darauf besass nur er ein Anrecht
oder jedenfalls ein Vorrecht, denn er hatte die Gradiva, von der niemand
sonst gewusst, entdeckt, sie täglich betrachtet, in sich aufgenommen,
gewissermassen mit seiner Lebenskraft durchdrungen, und ihm war's, als
ob er ihr dadurch ein Leben wiederverliehen habe, das sie ohne ihn nicht
besessen hätte. Daraus aber fiel seinem Gefühl ein Recht zu,
auf das er allein Anspruch erheben durfte und verweigern konnte, es mit
irgend Jemand sonst zu theilen. |