Der Sprecher brach ab, setzte behutsam einige Schritte am Gelände empor vorwärts und hielt, sich reglos auf den Boden hinstreckend, eine aus einem langen Grashalm hergestellte kleine Schlinge vor eine schmale Felsritze, aus der das bläulich schillernde Köpfchen einer Eidechse hervorsah. So blieb er ohne die leiseste Bewegung liegen, und Norbert Hanold wendete sich hinter seinem Rücken geräuschlos um und kehrte auf den Weg, den er gekommen, zurück. Ihm war's dunkel, das Gesicht des Lacertenjägers sei schon einmal, wahrscheinlich in einem der beiden Gasthöfe, an seinen Augen vorübergegangen, darauf wies auch die Anrede desselben hin. Es hatte etwas kaum Glaubliches, was für närrisch merkwürdige Vorhaben Leute zu der weiten Fahrt nach Pompeji veranlassen konnten; froh, dass es ihm gelungen sei, sich so rasch von dem Schlingensteller loszumachen, und wieder imstande zu sein, seine Denkkraft auf das Problem der Körperhaftigkeit oder -losigkeit zurückzurichten, begab er sich auf die Rückwanderung. Doch verleitete ein Seitenweg ihn einmal zu unrichtigem Abbiegen und brachte ihn, statt zum westlichen Rand, an das Ostende der langgestreckten alten Stadtmauer; in seine Gedanken vertieft, nahm er die Irrung erst gewahr, als er dicht an ein Gebäude herangekommen, das weder der ›Diomed‹ noch das ›Hotel Suisse‹ war. Trotzdem trug es die Anzeichen einer Wirthschaft an sich, unweit davon erkannte er die Reste des grossen pompejischen Amphitheaters, und ihm kam von früher ins Gedächtnis, dass in der Nähe des letzteren noch ein Gasthaus, der ›Albergo del Sole‹, vorhanden sei, wegen seiner abgelegenen Entfernung vom Bahnhof meistens nur von einer geringen Gästezahl aufgesucht werde und ihm selbst auch unbekannt geblieben sei. Der Weg hatte ihm heiss gemacht, dazu das nebelhafte Kreisen in seinem Kopf nicht vermindert, so trat er in die offene Thür ein und liess sich das von ihm als nützlich gegen den Blutandrang erachtete Mittel einer Flasche kohlensauren Wassers geben. Das Zimmer stand, selbstverständlich bis auf den vollzählig versammelten Fliegenbesuch, leer, und der unbeschäftigte Wirth nützte, mit dem Eingekehrten eine Unterhaltung anknüpfend, die Gelegenheit, sein Haus und die darin enthaltenen ausgegrabenen Schätze bestens in Empfehlung zu bringen. Nicht grade unverständlich deutete er darauf hin, dass es in der Nähe von Pompeji Leute gäbe, bei denen unter den vielen von ihnen zum Verkauf ausgestellten Gegenständen kein einziges Stück echt, sondern alle nachgemacht seien, während er, sich mit einer geringeren Anzahl begnügend, seinen Gästen nur zweifellos Ungefälschtes anbiete. Denn er erwarb lediglich Dinge, bei deren Zutageförderung er selbst anwesend war, und im Weitergang seiner Beredsamkeit ergab sich, dass er auch zugegen gewesen, als man in der Gegend des Forum das junge Liebespaar aufgefunden, das sich bei der Erkenntnis des unabwendbaren Unterganges fest mit den Armen umschlungen und so den Tod erwartet habe. Davon hatte Norbert schon früher gehört, darüber als über eine Fabelerfindung irgendeines besonders phantasiereichen Erzählers die Achsel gezuckt, und er wiederholte dies auch jetzt, wie der Wirth ihm zum Beleg eine mit grüner Patina überkrustete Metallspange herbeiholte, die in seiner Gegenwart neben den Ueberresten des Mädchens aus der Asche gesammelt worden. Aber als der im Sonnenhof Eingekehrte sie in die eigene Hand nahm, übte doch die Einbildungskraft solche Uebermacht auf ihn aus, dass er plötzlich, ohne weiteres kritisches Bedenken, den dafür verlangten Engländerpreis entrichtete und eilig mit seinem Erwerb den ›Albergo di Sole‹ verliess. In diesem sah er bei einer nochmaligen Umdrehung oben an einem offenstehenden Fenster einen in ein Wasserglas gestellten, mit weissen Blüthen behängten Asphodilschaft herabnicken, und ohne eines logischen Zusammenhanges dafür zu bedürfen, durchdrang's ihn bei dem Anblick der Gräberblume, dass von ihr ihm eine Beglaubigung der Echtheit seines neuen Besitzthums zu Theil werde.
Dies betrachtete er, jetzt längs der Stadtmauer den Weg zur Porta Marina innehaltend, zugleich angespannt und scheu, vor Allem mit einem zwiespältigen Gefühl. Es war also doch kein Märchen, dass ein junges Liebespaar in solcher Umschlingung unweit des Forums ausgegraben worden sei, und dort am Apollotempel hatte er die Gradiva sich zum Todesschlaf hinlegen gesehn. Aber nur in einem Traum, das wusste er jetzt bestimmt; in Wirklichkeit konnte sie vom Forum noch weitergegangen, mit Jemand zusammengetroffen und gemeinsam mit ihm gestorben sein.
Aus der grünen Spange zwischen seinen Fingern durchfloss ihn ein Gefühl, sie habe der Zoë-Gradiva angehört, das Gewand derselben am Halse geschlossen gehalten. Dann aber war diese die Geliebte, Verlobte, vielleicht die junge Frau dessen gewesen, mit dem sie zusammen sterben gewollt.
Es wandelte Norbert Hanold an, die Spange fortzuschleudern. Sie brannte seine Finger, als ob sie in glühenden Zustand gerathe. Oder richtiger, sie verursachte ihm den Schmerz wie bei der Vorstellung, dass er seine Hand auf die der Gradiva lege und nur leere Luft antreffe.

Indess die Vernunft behauptete in seinem Kopf die Oberhand, er liess ihn nicht willenlos von der Phantasie beherrschen. Wie wahrscheinlich es sein mochte, fehlte doch der unumstössliche Beweis, dass die Spange ihr angehört habe und dass sie es gewesen sei, die man in den Armen des jungen Mannes aufgefunden. Diese Erkenntnis verhalf ihm zur Fähigkeit eines befreienden Athemzuges, und als er im Dämmerungsbeginn den ›Diomed‹ erreichte, hatte die langstündige Umherwandrung seiner gesunden Constitution doch auch leibliches Nahrungsbedürfnis eingebracht. Er verzehrte die ziemlich spartanische Abendkost, die der ›Diomed‹ trotz seiner argivischen Abkunft bei sich am Tisch adoptirt hatte, nicht ohne Esslust und nahm dabei zwei im Laufe des Nachmittags neueingetroffene Gäste gewahr.

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