Doch wie er scheu die
Hand danach streckte, war's ein kleines Skizzenbuch mit Bleistiftzeichnungen
verschiedener Ueberreste aus mehreren Häusern Pompejis. Das vorletzte
Blatt zeigte den Greifentisch im Atrium der Casa di Meleagro abgebildet,
und auf dem letzten war ein Anfang gemacht, über die Mohnblüthen
des Oecus hin den Durchblick durch die Säulenreihe des Peristyls
wiederzugeben. Ebenso Verwundersames rührte daraus an, dass die Abgeschiedene
in einem Skizzenbuch von heutiger Art zeichnete, wie dass sie ihren Gedanken
in deutscher Sprache Ausdruck gab. Doch waren das nur geringfügige
Wunderzugaben neben der grossen ihrer Wiederbelebung, und offenbar benützte
sie die mittägige Freistunde dazu, die Umgebung, in der sie einst
gelebt, mit ungewöhnlicher künstlerischer Begabung sich gegenwärtig
zu erhalten. Die Darstellungen zeugten von fein ausgebildetem Auffassungssinn,
wie jedes ihrer Worte von klugem Denkvermögen, und vermuthlich hatte
sie oftmals an dem alten Greifentisch gesessen, so dass er ihr ein besonders
werthvolles Erinnerungsstück war. Norbert Hanold verbrachte die zweite Hälfte dieses Tages
mit einem Gefühl, dass Pompeji überall oder wenigstens da, wo
er sich grad aufhalte, in eine Nebelwolke eingehüllt sei. Die war
nicht nach ihrer sonstigen Art grau, düster und trübsinnig,
vielmehr eigentlich heiter und äusserst vielfarbig, blau, roth und
braun, hauptsächlich leicht gelblich-weiss und alabasterweiss, dazu
von Sonnenstrahlen mit goldenen Fäden durchsponnen. Auch beeinträchtigte
sie weder das Sehvermögen des Auges noch die Gehörkraft des
Ohres, nur durch sie hindurch denken liess sich nicht, und das machte
doch eine Wolkenmauer daraus, deren Wirkung mit dem dichtesten Nebel wetteiferte.
Dem jungen Archäologen war's ungefähr, als werde ihm allstündlich
in unsichtbarer und auch sonst nicht bemerkbarer Weise ein Fiaschetto
mit Vesuvio beigebracht, der einen unterlasslosen Kreislauf in seinem
Gehirn ausführe. Davon suchte er sich instinktiv durch Anwendung
von Gegenmitteln zu befreien, indem er einerseits häufig Wasser trank,
andrerseits möglichst viel und weit umherlief. Seine medicinischen
Kenntnisse waren nicht umfangreich, allein sie verhalfen ihm doch zu der
Diagnose, dieser unbekannte Zustand müsse einem zu starken Blutandrang
nach dem Kopf, vielleicht in Verbindung mit einer beschleunigten Herzthätigkeit,
entspringen, denn er fühlte die letztere, ebenfalls als etwas ihm
bisher völlig Fremdartiges, ab und zu an einem raschen Klopfen gegen
seine Brustwandung. Im Uebrigen verhielten sich seine Gedanken, die nicht
nach aussen durchdringen konnten, im Innern keineswegs unthätig,
oder richtiger war's nur ein Gedanke, der dort den Alleinbesitz angetreten
hatte und eine rastlose, wenngleich vergeblich bleibende Geschäftigkeit
betrieb. Er drehte sich dabei immerwährend um die Frage herum, von
welcher leiblichen Beschaffenheit die Zoë-Gradiva sein möge,
ob sie während ihres Aufenthaltes im Hause des Meleager ein körperhaftes
Wesen oder nur eine Trugnachahmung dessen, das sie ehemals besessen habe,
sei. Für das erstere schien physikalisch-physiologisch-anatomisch
zu reden, dass sie über Organe zum Sprechen verfügte und mit
den Fingern einen Bleistift zu halten vermochte. Aber bei Norbert überwog
doch die Annahme, wenn er sie berühren, etwa seine Hand auf die ihrige
legen würde, träfe er damit nur auf leere Luft. Sich darüber
zu vergewissern, trieb ihn ein eigenthümlicher Drang, indess eine
ebenso grosse Scheu hielt ihn in der Vorstellung auch davon zurück.
Denn er empfand, die Bestätigung jeder der beiden Möglichkeiten
müsse etwas Bangniseinflössendes mit sich bringen. Die Körperhaftigkeit
der Hand würde ihn mit einem Schreck durchfahren und ihre Körperlosigkeit
ihm einen starken Schmerz verursachen. |