Er fuhr fort: »Dadurch
kam mir der griechische Dichter Meleager ins Gedächtnis, und ich
glaubte, du seiest eine Nachkommin von ihm und kehrtest – in der
Stunde, die es dir verstattet – in dein Vaterhaus zurück. Aber,
als ich dich Griechisch ansprach, verstandest du es nicht.«
»War das Griechisch? Nein, das verstand ich nicht oder hab' es wohl
vergessen. Doch wie du jetzt wiederkamst, hörte ich dich etwas sprechen,
was mir verständlich wurde. Du drücktest den Wunsch aus, Jemand
möchte doch noch dasein und leben. Nur begriff ich nicht, wen du
damit meintest.«
Das liess ihn erwidern, er habe bei ihrem Anblick geglaubt, sie sei es
nicht wirklich, sondern nur seine Phantasie täusche ihm ihr Bild
an der Stelle, wo er sie gestern angetroffen, wieder vor. Dazu lächelte
sie und pflichtete bei: »Es scheint, dass du Grund haben magst,
dich vor einem Uebermass von Einbildungsvermögen in Acht zu nehmen,
obwohl ich bei meinem Zusammensein mit dir nicht auf solche Vermuthung
gekommen war.« Aber sie brach davon ab und fügte nach: »Was
ist es denn mit meiner Gangart, von der du vorhin sprachst?«
Merkbar war's, dass ein in ihr rege gewordenes Interesse sie darauf zurückbrachte,
und ihm kam vom Mund: »Wenn ich dich bitten darf –«
Dabei indess stockte er, denn ihm gerieth schreckhaft in Erinnerung, dass
sie gestern plötzlich aufgestanden und davongeschritten sei, als
er sie gebeten hatte, sich noch einmal so auf der Stufe, wie auf der des
Apollotempels, zum Schlaf hinzulegen, und dunkel brachte etwas in seinem
Kopf den Blick, den sie beim Weggang auf ihn gerichtet, damit in Verbindung.
Doch jetzt erhielt sich der ruhig-freundliche Ausdruck ihrer Augen gleichmässig
fort, und da er nicht weitersprach, sagte sie: »Es war artig von
dir, dass dein Wunsch, Jemand möge noch leben, mir galt. Wenn du
dafür etwas von mir bitten willst, erfülle ich es dir gern.«
Das beschwichtigte seine Furcht, und er entgegnete: »Es würde
mich glücklich machen, dich in der Nähe so gehen zu sehn wie
dein Bildnis –«
Bereitwillig, ohne etwas zu erwidern, stand sie auf, schritt eine Strecke
zwischen der Wand und den Säulen entlang. Genau die ihm so festeingeprägte,
ruhig-behende Gangart mit der sich fast senkrecht emporhebenden Sohle
war's, nur nahm er zum erstenmal gewahr, dass sie unter dem fussfreien
Gewand keine Sandalen, sondern sandfarbig helle Schuhe von feinem Leder
trug. Als sie zurückkehrte und sich schweigend wieder hinsetzte,
zog er unwillkürlich diesen Unterschied ihrer Fussbekleidung von
der auf dem Relief in Rede. Darauf entgegnete sie: »Die Zeit ändert
ja immerzu an Allem, und für die gegenwärtige passen Sandalen
nicht, darum lege ich Schuhe an, die besser gegen Staub und Regen schützen.
Aber weshalb batest du mich, vor dir zu gehen? Was ist denn Besonderes
daran?«
Ihr nochmals ausgedrückter Wunsch, dies zu erfahren, bekundete sie
nicht ganz von einer weiblichen Neugierde frei. Der Befragte erläuterte
nun, dass es sich um die eigenartig hohe Aufstellung ihres zurückgehaltenen
Fusses während des Ausschreitens handle, und knüpfte daran,
wie er in seiner Heimat mehrere Wochen lang auf der Strasse den Gang der
heutigen Frauen zu beobachten gesucht habe. Doch es scheine, dass diese
schöne Bewegungsweise ihnen völlig verlorengegangen sei, mit
Ausnahme vielleicht von einer einzigen, die ihm einmal den Eindruck, so
zu gehen, gemacht. Sicher habe er dies indess in dem Menschengedränge
um sie her nicht feststellen können und ihn wohl eine Augentäuschung
befallen gehabt, da ihm vorgekommen sei, als ob auch ihre Gesichtszüge
etwas denen der Gradiva geähnelt hätten.
»Wie schade«, antwortete sie, »denn die Feststellung
wäre doch von grosser wissenschaftlicher Bedeutung gewesen, und wenn
sie dir gelungen wäre, hättest du vielleicht die weite Reise
hierher nicht zu machen gebraucht. Doch von wem sprachst du eben? Wer
ist die Gradiva?«
»So habe ich mir dein Bild benannt, da ich deinen wirklichen Namen
nicht wusste – und auch jetzt noch nicht weiss.«
Das letzte setzte er ein bischen zögernd hinzu, und auch ihr Mund
zauderte ein wenig, ehe sie auf die indirecte Frage seiner Nachfügung
erwiderte: »Ich heisse Zoë.«
Ihm entflog mit einem schmerzlichen Ton: »Der Name steht dir schön
an, aber er klingt mir als ein bitterer Hohn, denn Zoë heisst das
Leben.«
»Man muss sich in das Unabänderliche finden«, entgegnete
sie, »und ich habe mich schon lange daran gewöhnt, todt zu
sein. Nun aber ist für heute meine Zeit vorbei; du hast die Grabesblume
mitgebracht, dass sie mich auf den Weg zurückgeleiten soll. So gib
sie mir.«
Aufstehend streckte sie die schmale Hand vor, und er reichte ihr die Asphodelosstaude,
doch behutsam, ihre Finger nicht zu berühren. Den Blüthenzweig
annehmend, sagte sie: »Ich danke dir. Solchen, die besser daran
sind, giebt man im Frühling Rosen, doch für mich ist die Blume
der Vergessenheit aus deiner Hand die richtige. Morgen wird es mir verstattet
sein, um diese Stunde noch wieder hierher zu kommen. Wenn auch dich dein
Weg dann noch einmal ins Haus des Meleager führt, können wir
uns wie heute am Mohnrand gegenübersitzen. Auf seiner Schwelle steht:
Have, und ich spreche es dir: Have!«
Sie ging und verschwand wie gestern an der Umbiegung des Porticus, als
ob sie dort in den Boden niedergesunken sei. Leer und stumm lag Alles
wieder, nur aus einiger Entfernung her scholl einmal kurz ein heller,
gleich wieder abgebrochener Ton wie von einem lachenden Ruf eines über
die Trümmerstadt hinfliegenden Vogels. Der Zurückgebliebene
sah auf den verlassenen Stufensitz hinunter, dort schimmerte etwas Weisses,
das Papyrusblatt schien's zu sein, das die Gradiva gestern auf den Knien
gehalten und heute mitzunehmen vergessen hatte. |