Er treffe die Gesuchte
nicht an, weil ihr nicht verstattet worden wiederzukommen, erst nach einer
Zeit, in der auch er seit lange nicht mehr zu den Lebenden gehöre,
ebenfalls todt, begraben und vergessen sei. Allerdings, wie sein Fuss
nun an der Wand unter dem apfelaustheilenden Paris entlangschritt, gewahrte
sein Blick die Gradiva ebenso wie gestern vor sich, in derselben Gewandung
zwischen den gleichen zwei gelben Säulen auf der nämlichen Stufe
sitzend. Doch er liess sich nicht von einem Gaukelspiel seiner Einbildungskraft
täuschen, sondern wusste, nur die Phantasie gestalte ihm als Trugwerk
wieder vor Augen, was er gestern dort in Wirklichkeit gesehn. Nicht umhin
aber konnte er, sich der Anschauung der von ihm selbst geschaffenen wesenlosen
Erscheinung hinzugeben, stand anhaltend, und ohne sein Wissen kamen ihm
in einem Ton des Leides die Worte vom Mund: »Oh, dass du noch wärest
und lebtest!«
Seine Stimme verhallte, und danach lag wieder das hauchlose Schweigen
zwischen den Ueberresten des alten Festsaales. Doch dann durchklang eine
Andere die leere Stille und sagte: »Willst du dich nicht auch setzen?
Du siehst ermüdet aus.«
Norbert Hanolds Herzschlag stand einmal still. So viel brachte sein Kopf
an Besinnung zusammen: Eine Vision vermochte nicht zu sprechen. Oder übte
auch eine Gehörhallucination Betrug an ihm? Starr dreinblickend,
stützte er sich mit der Hand an einer Säule.
Da fragte die Stimme wieder, und es war die, welche niemand sonst als
die Gradiva besass: »Bringst du mir die weisse Blume?«
Ein Betäubungsschwindel fasste ihn an, er fühlte, dass die Füsse
ihn nicht mehr hielten, sondern zum Sitzen zwangen, und er liess sich
ihr gegenüber an der Säule auf die Stufe niedergleiten. Ihre
hellen Augen waren auf sein Gesicht gerichtet, doch mit andersgeartetem
Blick, als mit dem sie ihn gestern bei ihrem plötzlichen Aufstehen
und Davongehn angesehen hatte. Aus dem hatte etwas Unmuthiges und Zurückweisendes
gesprochen, das war weggeschwunden, als ob sie inzwischen zu einer veränderten
Auffassung gelangt sei, und ein Ausdruck von suchender Neugier oder Wissbegier
an die Stelle getreten. Und ähnlich schien sie sich auch darauf besonnen
zu haben, dass die heute bräuchliche Anrede in der dritten Person
ihrem Munde und den Umständen des Raumes nicht angemessen sei, denn
sie hatte sich auch des ›Du‹ bedient, und es kam ihr eigentlich
ohne Schwierigkeit, wie etwas Natürliches von den Lippen. Da er aber
auf ihre letzte Frage gleichfalls stumm geblieben war, nahm sie nochmals
wieder das Wort und sagte:
»Du sprachst gestern, du hättest mir einmal zugerufen, als
ich mich zum Schlafen hingelegt, und nachher bei mir gestanden; mein Gesicht
sei da ganz weiss wie Marmor gewesen. Wann und wo war das? Ich kann mich
nicht daran erinnern und bitte dich, es mir genauer mitzutheilen.«
Norbert hatte jetzt so viel Sprachfähigkeit gewonnen, dass ihm möglich
fiel zu antworten: »In der Nacht, als du dich am Forum auf die Stufen
des Apollotempels setztest und der Aschenfall vom Vesuv dich zudeckte.«
»Ach so – damals. Ja richtig – das war mir nicht eingefallen.
Aber ich hätte mir denken können, dass es eine derartige Bewandtnis
damit haben müsse. Als du's gestern sagtest, kam's mir nur zu unerwartet,
und ich war zuwenig darauf vorbereitet. Doch das geschah, wenn ich mich
recht besinne, vor bald zwei Jahrtausenden. Lebtest du denn damals schon?
Mich deucht, du siehst jünger aus.«
Sie sprach's sehr ernsthaft, nur am Schluss spielte ihr ein leichtes,
äusserst anmuthiges Lächeln um den Mund. Er war in eine verlegene
Unschlüssigkeit gerathen und erwiderte ein wenig stotternd: »Nein,
wirklich, glaub' ich, lebte ich wohl im Jahre 79 noch nicht – es
war vielleicht – ja, es ist wohl der Seelenzustand, den man Traum
nennt, gewesen, der mich in die Zeit vom Untergang Pompejis zurückbrachte
– aber ich erkannte dich auf den ersten Blick wieder –«
In den Zügen der ihm nur auf ein paar Schritte Entfernung Gegenübersitzenden
kennzeichnete sich merklich eine Ueberraschung, und sie wiederholte mit
einem Ton von Verwunderung: »Du erkanntest mich wieder? In dem Traum?
Woran?«
»Gleich zuerst an deiner besonderen Gangart.«
»Auf die hattest du achtgegeben? Und gehe ich denn besonders?«
Ihr Erstaunen hatte sich wahrnehmbar noch erhöht; er versetzte: »Ja
– weisst du's selbst nicht? – anmutreicher als irgendeine
sonst, wenigstens unter den jetzt Lebenden giebt es keine. Doch ich erkannte
dich auch sofort an allem Uebrigen, der Gestalt und dem Antlitz, deiner
Haltung und Gewandung, denn Alles stimmte aufs genaueste mit deinem Reliefbild
in Rom überein.«
»Ach so –« wiederholte sie noch einmal in ähnlichem
Ton wie vorher – »mit meinem Reliefbild in Rom. Ja, daran
hatte ich auch nicht gedacht und weiss sogar im Augenblick nicht genau
– wie ist es doch – und dort hast du's also gesehen?«
Nun berichtete er, der Anblick desselben habe ihn so angezogen, dass er
hocherfreut gewesen sei, in Deutschland einen Abguss davon zu bekommen,
der schon seit Jahren in seinem Zimmer hänge. Den betrachte er täglich,
ihm sei die Vermuthung aufgegangen, das Bild müsse eine junge Pompejanerin
darstellen, die in ihrer Heimatstadt über die Trittsteine einer Strasse
wegschreite, und das habe jener Traum ihm bestätigt. Jetzt wisse
er auch, dass er dadurch getrieben worden, wieder hierher zu reisen, um
nachzusuchen, ob er nicht irgendeine Spur von ihr auffinden könne.
Und wie er gestern mittags an der Ecke der Mercurstrasse gestanden, sei
sie selbst plötzlich grade ebenso wie ihr Bildnis vor ihm über
die Trittsteine weggeschritten, als ob sie sich drüben in das Haus
des Apollo begeben wollte. Dann habe sie weiterhin die Strasse wieder
zurücküberkreuzt und sei vor dem Hause des Meleager verschwunden.
Dazu nickte sie mit dem Kopf und sagte: »Ja, ich hatte die Absicht,
das Haus des Apollo aufzusuchen, ging dann jedoch hierher.« |