Den Himmel hielten jetzt unzählbare blitzende und flimmernde Sterne übersät, jedoch nicht in der herkömmlich-unbeweglichen Weise, sondern es erregte Norbert den Eindruck, als ob der Perseus, die Kassiopeia und die Andromeda mit noch einigen Nachbarn und Nachbarinnen, sich leicht hierhin und dorthin verneigend, einen langsamen Reigen aufführten, und auch unten auf dem Erdboden, schien's ihm, beharrten die dunklen Schattenrisse der Baumwipfel und Baulichkeiten nicht ganz auf dem nämlichen Standpunkt. Das konnte auf dem von altersher schwanken Boden der Gegend freilich nicht grade wundernehmen, denn die unterirdische Glut lauerte überall nach einem Aufbruch und liess auch ein weniges von sich in die Rebstöcke und Trauben emporsteigen, aus denen der Vesuvio gekeltert wurde, der nicht zu den gewohnten Abendgetränken Norbert Hanolds zählte. Allein dieser trug in der Erinnerung, wenngleich dem Wein ein bischen mit an der kreisenden Bewegung der Dinge zuzuschreiben sein mochte, dass alle Gegenstände schon seit der Mittagsstunde eine Neigung offenbart hatten, sich leise um seinen Kopf herumzudrehen, und so empfand er in dem bischen Mehr nichts Neues, sondern nur eine Fortsetzung des bereits vorher Gewesenen. Er stieg zu seiner Camera hinan und stand noch ein Weilchen am offenen Fenster, nach dem Vesuvkegel hinüberblickend, über dem jetzt keine Rauchpinie den Wipfel ausbreitete, vielmehr umfloss ihn etwas wie das Hin- und Herwallen eines dunkelpurpurnen Mantels. Dann kleidete der junge Archäologe sich, ohne Licht angezündet zu haben, aus und suchte seine Lagerstätte. Doch wie er sich auf diese hinstreckte, war sie nicht das Bett des Diomed, sondern ein rothes Mohnfeld, dessen Blüthen als ein weiches, sonnenheisses Kissen über ihm zusammenschlugen. Seine Feindin, die musca domestica communis, sass in halbhundertfältiger Anzahl, vom Dunkel zu lethargischem Stumpfsinn gebändigt, über seinem Kopf an der Stubenwand, nur eine schnurrte ihm, selbst in der Schlaftrunkenheit von ihrer Martergier getrieben, um die Nase. Aber er erkannte sie nicht als das absolut Böse, die jahrtausendealte Geissel der Menschheit, denn vor seinen geschlossenen Augen schwebte sie als eine rothgoldene Kleopatra um ihn her.
Als am Morgen die Sonne unter reger Beihülfe der Fliegen ihn aufweckte, konnte er sich nicht besinnen, was in der Nacht noch weiter an wundersamen ovidischen Metamorphosen um sein Bett vorgegangen sei. Doch zweifellos hatte irgendein mystisches Wesen, unablässig Traumgespinste webend, neben ihm gesessen, denn er fühlte seinen Kopf vollständig damit angefüllt und verhängt, so dass alle Denkfähigkeit darin ausweglos eingesperrt sass und nur das eine ihm im Bewusstsein stand, er müsse genau um die Mittagsstunde wieder im Hause des Meleager sein. Dabei hatte sich indess eine Scheu seiner bemächtigt, wenn die Thorhüter am Ingresso ihm ins Gesicht sähen, würden sie ihn nicht hineinlassen, überhaupt sei's nicht rathsam, dass er sich in der Nähe der Beobachtung von Menschenaugen aussetze. Dem zu entgehen, gab's für den Pompeji-Kundigen ein, freilich vorschriftswidriges Mittel, doch er befand sich nicht in der Verfassung, gesetzlichen Anordnungen eine Bestimmung seines Verhaltens zuzuerkennen, stieg wieder, wie am Abend seiner Ankunft, zur alten Stadtmauer hinan und umschritt auf dieser in weitem Halbbogen die Trümmerwelt bis zur einsam-unbewachten Porta di Nola. Hier fiel's nicht schwierig, ins Innere hinunterzugelangen, und er begab sich abwärts, ohne sein Gewissen übermässig damit zu beschweren, dass er der ›amministrazione‹ durch sein selbstherrliches Verfahren vorderhand zwei Lire Eintrittsgeld entzog, die er ihr wohl später auf irgendeine andere Weise zukommen lassen konnte. So hatte er ungesehn einen sonst von niemandem aufgesuchten, interesselosen, zum grössten Theile noch unausgegrabenen Stadttheil erreicht, setzte sich in einen verborgenen Schattenwinkel und wartete, dann und wann seine Uhr zu Rath ziehend, auf das Vorrücken der Zeit. Einmal traf sein Blick in einiger Entfernung auf etwas silberweiss glänzend aus dem Schutt Aufragendes, ohne dass sein unsicheres Sehvermögen erkannte, was es sei. Doch trieb's ihn unwillkürlich hinanzugehn, und da stellte es sich als ein hoher, ganz mit weissen Glockenkelchen behängter Asphodelos-Blüthenschaft heraus, dessen Samen der Wind von draussen hierhergetragen. Die Blume der Unterwelt war's, deutungsvoll und, wie's ihm zum Gefühl kam, für sein Vorhaben bestimmt, hier aufzuwachsen; er brach den schlanken Stengel ab und kehrte damit nach seinem Sitz zurück. Mehr und mehr brannte die Maisonne heiss wie gestern nieder, näherte sich endlich ihrer Mittagshöhe, und nun machte er sich durch die lange Strada di Nola auf den Weg. Diese lag todesstill verlassen, wie auch fast alle Uebrigen schon; drüben nach Westen drängten sich bereits sämmtliche Vormittagsbesucher wieder der Porta Marina und den Suppentellern zu. Nur gluthdurchwirkte Luft zitterte, und in der Glanzblendung erschien die einsame Gestalt Norbert Hanolds mit der Asphodilstaude wie die eines in moderner Kleidung daherschreitenden Hermes Psychopompos, auf der Wanderung begriffen, um eine abgeschiedene Seele zum Hades hinunterzugeleiten.
Nicht bewusst, doch einem Instinkttrieb folgend, fand er sich durch die Strada della Fortuna weiter bis zur Mercurstrasse zurecht und gelangte, rechtshin in diese abbiegend, vor die Casa di Meleagro. Ebenso leblos wie gestern empfingen ihn hier das Vestibulum, Atrium und Peristylium, zwischen den Säulen des letzteren flammten die Mohnblüthen des Oecus herüber. Dem in diesen Eintretenden aber war's nicht deutlich, ob er gestern oder vor zweitausend Jahren hier gewesen sei, um bei dem Eigenthümer des Hauses irgendeine Erkundigung einzuziehn, die für die archäologische Wissenschaft grösste Wichtigkeit besessen; welche, wusste er sich indess nicht anzugeben, und ausserdem war ihm, ob auch in einem Widerspruch damit, die gesamte Alterthumswissenschaft das Zweckloseste und Gleichgültigste auf der Welt. Er begriff nicht, dass ein Mensch sich mit ihr befassen könne, da es doch nur ein einziges gab, auf das sich alles Denken und Ergründen richten musste; von welcher Beschaffenheit die körperliche Erscheinung eines Wesens sei, das zugleich todt und lebendig, wenn auch dies letztere nur in der Mittagsgeisterstunde, war. Oder nur grade am gestrigen Tage gewesen war, vielleicht nur ein einzigesmal in einem Jahrhundert oder Jahrtausend, denn ihn überfiel's jetzt plötzlich mit Gewissheit, seine heutige Rückkehr hieher sei vergeblich.

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