Aber da vermochten ihre Lippen dem Antriebe nicht mehr zu widerstehen, ein wirkliches Lächeln umspielte sie, und zugleich klang zwischen ihnen eine Stimme hervor: »Wenn Sie mit mir sprechen wollen, müssen Sie's auf Deutsch thun.«
Das war eigentlich merkwürdig aus dem Munde einer vor zwei Jahrtausenden verstorbenen Pompejanerin, oder wär' es für einen Hörer in anderer Sinnesverfassung gewesen. Doch Norbert verging jede Befremdlichkeit unter zwei über ihm zusammenschlagenden Empfindungswogen, der einen, dass die Gradiva Sprachfähigkeit besass, und der Andern, die von ihrer Stimme aus seinem Innern aufgedrängt worden. Die klang grade so hell, wie's der Blick ihrer Augen war; nicht scharf, doch an eine angeschlagene Glocke erinnernd, ging ihr Ton durch die Sonnenstille über das blühende Mohngefild hin, und dem jungen Archäologen kam's plötzlich zum Bewusstsein, in sich, in seiner Vorstellung habe er sie schon so gehört. Und unwillkürlich gab er seinem Gefühl laut Ausdruck: »Ich wusste es, so klänge deine Stimme.«
In ihrem Gesicht stand zu lesen, sie suche nach einem Verständnis für etwas, doch finde es nicht. Auf seine letzte Aeusserung entgegnete sie nun: »Wie konnten Sie das? Sie haben doch noch nie mit mir gesprochen.«
Ihm war's nicht im geringsten mehr auffällig, dass sie Deutsch sprach und ihn nach dem heutigen Brauch in der dritten Person anredete; da sie's that, begriff er vielmehr völlig, es könne nicht anders geschehn, und er erwiderte schnell: »Nein, gesprochen nicht – aber ich rief dir zu, als du dich zum Schlafen hinlegtest, und stand dann bei dir – dein Gesicht war so ruhig-schön wie von Marmor. Darf ich dich bitten – leg' es noch einmal wieder so auf die Stufe zurück –«
Während seines Sprechens hatte sich etwas Eigenthümliches begeben. Von den Mohnblüthen her war ein goldfarbiger Falter, am Innenrand der Oberflügel leicht roth überhaucht, zu den Säulen herangeflattert, umgaukelte ein paarmal den Kopf der Gradiva und liess sich dann auf dem braunen Haargewell über ihrer Stirn nieder. Zugleich aber wuchs ihre Gestalt schlank und hoch empor, denn sie stand mit einer ruhig-raschen Bewegung auf, richtete Norbert Hanold kurz und stumm noch einen Blick entgegen, aus dem etwas sprach, als ob sie ihn für einen Irrsinnigen ansehe, und den Fuss versetzend, schritt sie in ihrer Gangart, den Säulen des alten Porticus entlang, davon. Nur flüchtig noch sichtbar, dann schien sie in den Boden versunken zu sein.
Er stand athemberaubt, wie betäubt, doch hatte er mit dumpfem Verständnis aufgefasst, was sich vor seinen Augen zugetragen habe. Die Mittagsgeisterstunde war vorüber und in der Gestaltung eines Schmetterlings von der Asphodeloswiese des Hades herauf eine geflügelte Botin gekommen, um die Abgeschiedene an ihre Rückkehr dorthin zu mahnen. Damit verband sich ihm, ob auch in verworrener Undeutlichkeit, noch etwas Anderes. Er wusste, dass der schöne Falter der Mittelmeerländer den Namen Kleopatra trug, und so hatte die junge Gattin des kalydonischen Meleager geheissen, die aus Schmerz über seinen Tod sich selbst den Unterirdischen zum Opfer gebracht.
Von seinem Mund irrte der Fortschreitenden ein Ruf nach: »Kehrst du morgen in der Mittagsstunde wieder hieher?« Doch sie wendete sich nicht um, gab keine Antwort und verschwand nach wenig Augenblicken im Winkel des Oecus hinter den Säulen. Nun durchfuhr's ihn jäh wie mit einem treibenden Stoss, dass er ihr nacheilte. Aber ihr helles Gewand kam nirgendwo mehr zum Vorschein, von den heissen Sonnenstrahlen überflammt, lag rings um ihn die Casa di Meleagro ohne Regung und Laut, nur die Kleopatra schwebte auf ihren rothschimmernden Goldflügeln, langsame Kreise ziehend, wieder über dem dichten Gedränge der Mohnblüthen dahin.
Wann und auf welche Weise er zum Ingresso zurückgekommen sei, war Norbert Hanold nicht im Gedächtnis haften geblieben; er trug nur in der Erinnerung, dass sein Magen peremptorisch verlangt hatte, sich sehr verspätet im Diomed etwas auftischen zu lassen, und dann war er auf dem ersten besten Wege ziellos davongewandert, an den Golfstrand nördlich von Castellammare gerathen, wo er sich auf einen Lavablock gesetzt und der Seewind ihm um den Kopf geblasen, bis die Sonne ungefähr in der Mitte zwischen dem Monte Sant' Angelo über Sorrent und dem Monte Epomeo auf Ischia untergegangen. Doch trotz diesem jedenfalls mehrstündigen Aufenthalt am Wasser hatte er aus der frischen Luft dort für seine geistige Sinnesbeschaffenheit keinen Vortheil gezogen, sondern kehrte zum Gasthof ziemlich im nämlichen Zustand zurück, in dem er ihn verlassen. Er traf die übrigen Gäste bei emsiger Beschäftigung mit der ›cena‹ an, liess sich in einem Winkel der Stube einen Fiaschetto mit Vesuvwein bringen, betrachtete die Gesichter der Speisenden und hörte ihren Unterhaltungen zu. Aus den Mienen Aller wie aus ihren Reden aber ging ihm als vollkommen zweifellos hervor, dass niemand unter ihnen einer todten, in der Mittagsstunde wieder flüchtig zum Leben gelangten Pompejanerin begegnet sei und mit ihr gesprochen habe. Dies war allerdings von vornherein anzunehmen gewesen, da sie sich um die Zeit sämtlich beim pranzo befunden hatten; warum und wozu eigentlich, wusste er sich nicht anzugeben, doch nach einer Weile ging er zum Concurrenten des Diomed, ins ›Hotel Suisse‹ hinüber, setzte sich auch dort in eine Ecke, da er etwas bestellen musste, ebenfalls vor ein Fläschchen Vesuvio, und gab sich hier mit Augen und Ohren den gleichen Nachforschungen hin. Sie führten genau zu dem nämlichen Ergebnis, nur ausserdem noch zu dem weiteren, dass ihm nunmehr sämmtliche zeitweiligen lebendigen Besucher Pompejis von Angesicht zu Angesicht bekannt geworden waren. Das bildete zwar einen Zuwachs seiner Kenntnisse, den er kaum als Bereicherung ansehen konnte, allein dennoch berührte ihn daraus eine gewisse befriedigende Empfindung, dass in den beiden Unterkunftstätten kein Gast, weder männlichen noch weiblichen Geschlechtes, vorhanden sei, zu dem er nicht vermittelst Ansehens und Anhörens in ein, wenn auch einseitiges, persönliches Verhältnis getreten war. Selbstverständlich war ihm mit keinem Gedanken die widersinnige Annahme in den Sinn gekommen, er könne möglicherweise in einer der beiden Wirthschaften die Gradiva antreffen, aber er hätte eidlich zu beschwören vermocht, dass sich niemand in jenen aufhalte, der oder die mit ihr nur im allerentferntesten eine Spur von Aehnlichkeit besitze. Während seiner Betrachtungen hatte er aus dem Fiaschetto ab und zu in sein Glas geschenkt, dies hin und wieder ausgetrunken, und als dadurch allgemach der erstere inhaltslos geworden, stand er auf und ging zum Diomed zurück.

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