Leer und lautlos lag der Raum da, den Hineingetretenen völlig fremd anblickend, keine Erinnerung weckend, dass er schon hier gewesen sei. Doch dann tauchte sie ihm auf, denn das Hausinnere bot eine Abweichung von dem der übrigen ausgegrabenen Gebäude der Stadt. An das Atrium schloss sich nicht in gebräuchlicher Art das Peristylium jenseits des Tablinums nach rückwärts an, sondern zur linken Seite, dafür aber von weiterem Umfang und prächtigerer Ausstattung als irgendein Anderes in Pompeji. Es war von einem Porticus umrahmt, den zwei Dutzend an der unteren Hälfte roth bemalte, an der oberen weisse Säulen trugen. Die verliehen dem grossen, schweigsamen Raume Feierliches; hier befand sich in der Mitte eine Piscina in Gestalt eines Brunnens mit schön gearbeiteter Umfassung. Nach Allem musste das Haus einem angesehenen Manne von Bildung und Kunstsinn zur Wohnstatt gedient haben.
Die Augen Norberts gingen umher, und sein Ohr horchte. Doch auch hier regte sich nirgendwo etwas, klang kein leisester Ton. Zwischen diesem kalten Gestein gab es keinen Athemzug des Lebens mehr; wenn die Gradiva sich in das Haus des Meleager begeben hatte, war sie bereits wieder in nichts zergangen.
An die Rückseite des Peristyls stiess noch ein Raum, ein Oecus, der einstmalige Festsaal, ebenfalls an drei Seiten von Säulen, doch gelb bemalten, umgeben, die von weitem im Lichtauffall wie mit Gold belegt schimmerten. Zwischen ihnen indess leuchtete ein noch weit glühenderes Rot als von den Wänden herüber, mit dem kein Pinsel des Alterthums, sondern die heutige junge Natur den Boden übermalt hatte. Dessen früheres kunstvolles Paviment lag völlig zerstört, verfallen und verwittert; Mai war's, der seine urälteste Herrschermacht hier wieder übte, und den ganzen Oecus bedeckte wie zur Zeit in vielen Häusern der Gräberstadt gleicherweise rothblühender Feldmohn, dessen Samenkörner die Winde herübergetragen und die Asche zum Aufgehen gebracht. Ein Gewoge dichtzusammengedrängter Blüthen war's, oder so erschien's, obwohl sie in Wirklichkeit unbeweglich dastanden, denn der Atabulus fand zu ihnen herunter keinen Zugang, summte nur in der Höhe leise darüber weg. Doch die Sonne warf so flammendes Glanzgezitter auf sie nieder, dass es den Eindruck regte, als schwankten in einem Weiher rothe Wellen hin und her.
Norbert Hanolds Augen waren in andren Häusern achtlos über den ähnlichen Anblick hingegangen, aber hier ward er davon seltsam durchschauert. Die Traumblume erfüllte den Raum, am Rande des Lethewassers aufgewachsen, und Hypnos lag dazwischen hingestreckt, aus den Säften, welche die Nacht in den rothen Kelchen gesammelt, sinnumdämmernden Schlaf ausspendend. Dem durch den Porticus des Peristyls in den Oecus Hineingeschrittenen war's, als fühle er seine Schläfe vom unsichtbaren Schlummerstab des alten Besiegers der Götter und Menschen angerührt, doch nicht mit schwerer Betäubung, nur eine traumhaft süsse Lieblichkeit umwob ihm das Bewusstsein. Dabei indess blieb er noch Herr seines Fusses, setzte ihn an der Wand des ehemaligen Festsaales hin weiter vor, von der alte Bilder hersahen: Paris, den Apfel zutheilend, ein Satyr, der eine Aspisschlange in der Hand trug und eine junge Bacchantin mit ihr ängstigte.
Aber da wiederum plötzlich, unvorgesehen – nur etwa fünf Schritte von ihm entfernt, in dem schmalen Schatten, den ein einzelnes, noch erhalten gebliebenes Oberstück des Saalporticus herabwarf, sass zwischen zweien der gelben Säulen auf den niedrigen Stufen eine hellgewandete, weibliche Gestalt, die mit leichter Bewegung jetzt den Kopf ein wenig emporhob. Dadurch bot sie dem unbemerkt Herangekommenen, dessen Fusstritt sie offenbar erst eben vernommen, die Vollansicht ihres Antlitzes entgegen, das eine Doppelempfindung bei ihm hervorrief, denn es erschien seinen Augen zugleich als ein fremdes und doch auch als ein bekanntes, schon gesehenes oder vorgestelltes. Aber am Stocken seines Athemzuges und Aussetzen seines Herzschlages erkannte er als unzweifelhaft, wem es angehöre. Er hatte gefunden, wonach er gesucht, was ihn unbewusst nach Pompeji getrieben; die Gradiva führte ihr Scheinleben in der mittägigen Geisterstunde noch fort und sass hier vor ihm, so wie er sie im Traum sich auf die Stufen des Apollotempels niederlassen gesehn. Auf ihren Knien lag etwas Weisses ausgebreitet, das sein Blick klar zu unterscheiden nicht fähig war; ein Papyrosblatt schien's zu sein, und eine Mohnblüte hob sich mit rothem Scheine von ihm ab.

In ihrem Gesicht drückte sich eine Ueberraschung aus, unter dem glanzbraunen Haare und der schönen alabasterfarbigen Stirn sahen ihn zwei ausserordentlich hellgesternte Augen mit fragender Verwunderung an. Nur weniger Momente jedoch bedurfte es für ihn, dann hatte er die Uebereinstimmung ihrer Züge mit denen des Profils erkannt. So mussten sie, von vorn wahrgenommen, sein, und deshalb waren sie ihm doch auch beim ersten Blick nicht wirklich fremd gewesen. In der Nähe erhöhte ihr weisses Kleid durch die leichte Neigung ins Gelbliche den warmen Farbenton noch; sichtlich bestand's aus einem feinen, äusserst weichen Wollenstoff, der den reichen Faltenwurf veranlasste, und aus dem gleichen war das um den Kopf geschlagene Tuch verfertigt. Darunter schimmerte im Nacken mit einem Theil wieder das braune Haar hervor, kunstlos in einem einzelnen Knoten gesammelt; vorn am Hals, unter dem zierlichen Kinn, hielt eine kleine goldene Spange das Gewand zusammengeschlossen.
Das gelangte Norbert Hanold in halber Deutlichkeit zur Wahrnehmung, unwillkürlich hatte er nach seinem leichten Panamahut gefasst, ihn abgezogen, und nun kam ihm in griechischer Sprache vom Mund: »Bist du Atalanta, die Tochter des Jasos, oder entstammst du dem Hause des Dichters Meleager?«
Die Angeredete blickte ihn, ohne eine Antwort zu geben, lautlos mit dem ruhig-klugen Ausdruck ihrer Augen an, und zwei Gedanken durchkreuzten sich in ihm: Entweder vermochte ihr wiedererstandenes Scheindasein überhaupt nicht zu sprechen, oder sie war doch nicht von griechischer Abkunft und der Sprache unkundig. So vertauschte er diese mit der lateinischen und fragte in ihr: »War dein Vater ein vornehmer Bürger Pompejis von latinischem Ursprung?«
Darauf erwiderte sie indess ebensowenig, nur um ihre feingeschwungenen Lippen ging etwas leise Huschendes, als drängten sie eine Lachanwandlung zurück. Jetzt befiel's ihn mit Schreck; offenbar sass sie nur als ein stummes Bild vor ihm, ein Scheinen, dem die Sprache versagt war. Die Bestürzung über diese Erkenntnis prägte sich voll in seinen Zügen aus.

zurück           weiter
Zum Inhalt