Nur stellte hier nicht
ein Steingebild alles in gleichmässiger Farblosigkeit dar, das Gewand,
sichtlich aus äusserst weich-schmiegsamem Stoff verfertigt, sah nicht
mit kaltem Marmorweiss, sondern einem leicht ins Gelbliche fallenden warmen
Ton an, und das leisgewellt unter dem Kopftuch auf der Stirn und an der
Schläfe hervorblickende Haar hob sich mit goldbraunem Glanz von der
Alabasterfarbe des Gesichtes ab.
Zugleich mit dem Anblick aber war's Norbert hell im Gedächtnis aufgewacht,
dass er sie schon einmal so im Traum hier habe gehen seh'n, in der Nacht,
als sie sich drüben am Forum ruhig wie zum Schlafen auf die Stufen
des Apollotempels hingelegt hatte. Und mit dieser Erinnerung zusammen
kam ihm noch etwas Anderes zum erstenmal zum Bewusstwerden: Er sei, ohne
selbst von dem Antrieb in seinem Innern zu wissen, deshalb nach Italien
und ohne Aufenthalt von Rom und Neapel bis Pompeji weitergefahren, um
danach zu suchen, ob er hier Spuren von ihr auffinden könne. Und
zwar im wörtlichen Sinne, denn bei ihrer besonderen Gangart musste
sie in der Asche einen von allen Uebrigen sich unterscheidenden Abdruck
der Zehen hinterlassen haben.
Ein Mittagstraumbild war's wieder, was sich da vor ihm bewegte, und doch
auch eine Wirklichkeit. Denn das sprach aus einer Wirkung, die es verursachte.
Auf dem jenseitigen letzten Trittsteine lag im brennenden Sonnenlicht
bewegungslos eine grosse Lacerte ausgestreckt, deren wie aus Gold und
Malachit zusammengewobener Leib deutlich bis zu den Augen Norberts herleuchtete.
Aber vor dem herannahenden Fuss schoss sie jetzt plötzlich herunter
und ringelte sich über die weissglimmernden Lavaplatten der Strasse
davon.
Die Gradiva überschritt in ihrer ruhigen Hurtigkeit die Trittsteine
und ging, nun den Rücken wendend, auf dem Trottoir der andren Seite
fort, ihr Wegziel schien das Haus des Adonis zu sein. Vor dem hielt sie
auch einen Augenblick an, doch bewegte sich dann, wie nach andrem Besinnen,
durch die Strada di Mercurio weiter abwärts. In dieser lag zur Linken
von vornehmeren Gebäuden nur noch, nach den zahlreich dort aufgedeckten
Apollobildern benannt, die Casa di Apollo, und dem ihr Nachschauenden
kam's wieder, dass sie sich ja auch den Porticus des Apollotempels zum
Todesschlaf ausgewählt hatte. So stand sie wahrscheinlich in einem
näheren Verband mit dem Cultus des Sonnengottes und begab sich dorthin.
Bald indess hielt sie nochmals an; Trittsteine überkreuzten auch
hier die Strasse, und sie schritt wieder zur rechten Seite derselben zurück.
So wendete sie jetzt ihre andere Profilseite zu und nahm sich ein wenig
verändert aus, da ihre linke, das Gewand aufschürzende Hand
nicht sichtbar ward und statt ihrer gebogenen Armhaltung die rechte gradlinig
herabhing. In der weiteren Entfernung aber umwoben sie nun die goldwelligen
Sonnenstrahlen mit dichterem Schleiergewirk, liessen nicht mehr unterscheiden,
wo sie, auf einmal vor dem Haus des Meleager verschwindend, geblieben
sei.
Norbert Hanold stand noch, ohne ein Glied gerührt zu haben. Nur mit
den Augen, und diesmal mit den leiblichen, hatte er Schritt um Schritt
ihr kleiner werdendes Bild in sich aufgenommen. Jetzt holte er zum erstenmal
tief Athem, denn auch seine Brust war beinah reglos geblieben.
Zugleich aber hielt der sechste Sinn, die Uebrigen zur Nichtigkeit niederdrängend,
ihn völlig in seiner Macht. War das, was eben vor ihm gestanden,
ein Erzeugnis seiner Phantasie oder Wirklichkeit gewesen?
Er wusste es nicht, nicht ob er wache oder träume, suchte sich vergeblich
darauf zu besinnen. Dann jedoch überlief's ihm plötzlich mit
einem sonderbaren Schauer den Rücken. Er sah und hörte nichts,
doch fühlte an geheimen Schwingungen seines Innern, dass Pompeji
in der Mittagsgeisterstunde rings um ihn her zu leben begonnen hatte,
und so lebte in ihr auch die Gradiva wieder und war in das Haus gegangen,
das sie vor dem verhängnisvollen Augusttage des Jahres 79 bewohnt
hatte.
Er kannte die Casa di Meleagro von früherem Besuch, war diesmal jedoch
noch nicht dahin gekommen, sondern hatte nur im Museo Nazionale Neapels
kurz vor dem Wandgemälde des Meleager und seiner arkadischen Jagdgenossin
Atalanta angehalten, das in jenem Hause der Mercurstrasse gefunden und
nach dem das letztere benannt worden. Doch wie er nun, wieder zur Bewegungsfähigkeit
gelangt, gleichfalls diesem zuschritt, ward ihm zweifelhaft, ob es wirklich
seinen Namen nach dem Erleger des kalydonischen Ebers trage. Er entsann
sich plötzlich eines griechischen Dichters Meleager, der allerdings
wohl etwa um ein Jahrhundert vor der Zerstörung Pompejis gelebt hatte.
Aber ein Nachkomme von ihm konnte hierher gerathen sein und sich das Haus
erbaut haben. Das stimmte mit etwas Anderem in seinem Gedächtnis
Aufgewachten überein, denn er erinnerte sich seiner Vermuthung oder
vielmehr gewissen Ueberzeugung, die Gradiva sei von griechischer Abkunft
gewesen. Daneben freilich mischte sich in seine Vorstellung das Bild der
Atalanta ein, wie's Ovid in einer der Metamorphosen geschildert:
Oben schloss ihr Gewand mit dem Dorn die geglättete Spange,
Kunstlos lag ihr das Haar in den einzelnen Knoten gesammelt.
Nicht im Wortlaut konnte er sich auf die Verse besinnen, doch
ihr Inhalt war ihm gegenwärtig; und aus seinem Kenntnisvorrath gesellte
sich hinzu, dass die junge Gattin des Oeneussohnes Meleagros Kleopatra
geheissen habe. Mit grösserer Wahrscheinlichkeit aber handelte sich's
nicht um den, sondern um den griechischen Dichter Meleager. So gaukelte
es in der campanischen Sonnengluth mythologisch-literarhistorisch-archäologisch
durch seinen Kopf.
An den Häusern des Castor und Pollux und des Centauren vorübergekommen,
stand er jetzt vor der Casa di Meleagro, von deren Schwelle ihm, noch
erkennbar, der eingelegte Gruss ›Have‹ entgegensah. An der
Wand des Vestibulum überreichte Mercurius der Fortuna einen mit Geld
gefüllten Beutel; das wies vermuthlich allegorisch auf Reichthum
und sonstige glückliche Umstände der ehemaligen Bewohner hin.
Dahinter öffnete sich das Atrium, dessen Mitte ein runder, von drei
Greifen getragener Marmortisch einnahm. |