Da er aber nun einmal,
ob auch invita Minerva, durch seine Unbedachtsamkeit hierher versetzt
worden war, kam er über Nacht zum Beschluss, aus der begangenen Thorheit
wenigstens einen Tag lang wissenschaftlichen Nutzen zu ziehen, und begab
sich, sobald am Morgen der Ingresso geöffnet ward, auf dem ordnungsmässigen
Wege nach Pompeji hinein. Vor ihm und hinter ihm wanderte in kleinen,
von den Zwangsführern befehligten Trupps, mit rothem Bädeker
oder ausländischen Vettern desselben bewaffnet, die derzeitige, nach
heimlichen eignen Ausscharrungen lüsterne Bevölkerung der beiden
Gasthöfe; fast ausschliesslich erfüllte englisches oder anglo-amerikanisches
Gequadder die noch frische Morgenluft, die deutschen Hochzeitspaare beglückten
drüben hinter dem Monte Sant' Angelo auf Capri sich gegenseitig an
dem Frühstückstisch des Pagano-Hauptquartiers mit germanischer
Süssigkeit und Begeisterung. Norbert verstand's von früher her,
sich durch richtig gewählte, mit einer guten ›mancia‹
verbundene Worte bald von der Lästigkeit seines ›guida‹
zu befreien, um unbehindert allein seinen Zwecken nachgehn zu können.
Ihm gereichte etwas zur Befriedigung, dass er sich im Besitz eines tadellosen
Gedächtnisses erkannte; wohin sein Blick fiel, lag und stand Alles
genauso, wie er es in sich trug, als ob er's erst gestern vermittelst
sachverständiger Betrachtung seinem Kopf eingeprägt habe. Diese
sich beständig wiederholende Wahrnehmung aber brachte andrerseits
mit, dass ihm sein Hiersein eigentlich sehr unnöthig vorkam und sich
seiner Augen und geistigen Sinne mehr und mehr, wie am Abend auf der Mauer,
eine entschiedene Gleichgültigkeit bemächtigte. Obwohl, wenn
er aufsah, die Rauchpinie des Vesuvkegels zumeist gegen den blauen Himmel
vor seinem Blick dastand, kam ihm doch merkwürdigerweise nicht ein
einzigesmal in Erinnerung, dass er vor einiger Zeit einmal geträumt
habe, bei der Verschüttung Pompejis durch den Kraterausbruch im Jahre
79 zugegen gewesen zu sein. Das stundenlange Umherwandern machte ihn wohl
müde und halb schläfrig, allein von etwas Traumhaftem empfand
er nicht den geringsten Anhauch, sondern ihn umgab lediglich ein Gewirr
von Bruchstücken alter Thorbogen, Säulen und Mauern, im höchsten
Masse bedeutungsvoll für die archäologische Wissenschaft, doch
ohne die esotherische Beihülfe dieser angesehen, eigentlich nicht
viel Anderes als ein grosser, zwar sauber aufgeräumter, indess ausserordentlich
nüchterner Schutthaufen. Und obwohl Wissenschaft und Träumen
sonst zueinander auf einem gegensätzlichen Fusse zu stehen gewöhnt
waren, hatten sie offenbar heute hier ein Uebereinkommen getroffen, Norbert
Hanold gleicherweise ihre Hülfsleistungen zu entziehn und ihn völlig
der Zwecklosigkeit seines Umhergehens und -stehens zu überlassen.
So war er vom Forum bis zum Amphitheater, von der Porta di Stabia zur
Porta del Vesuvio, durch die Gräberstrasse wie durch unzählige
Andere kreuz und quer gewandert, und die Sonne hatte währenddessen
ebenfalls ihren gewohnten Vormittagsweg gemacht bis zu der Stelle hin,
wo sie ihren Aufstieg vom Bergrücken her zum bequemeren Abstieg nach
der Seeseite umzuändern pflegte. Damit aber gab sie den von der Reisepflicht
hergenöthigten Engländern und Amerikanern, männlichen wie
weiblichen, zur grossen Zufriedenheit ihrer unverstanden heiser geredeten
Führer ein Zeichen, auch der besseren Bequemlichkeit des Sitzens
an den Mittagstischen der beiden Dioskuren-Gasthöfe eingedenk zu
werden; sie hatten ausserdem Alles mit eignen Augen angesehen, was für
die Conversation jenseits des grossen und des Aermelwassers erforderlich
sein konnte, und so traten die von der Vergangenheit vollgesättigten
Einzeltrupps den Rückzug an, ebbten in gemeinsamer Bewegung durch
die Via Marina ab, um an den allerdings ziemlich euphemistisch-lukullischen
Tafeln der Gegenwart im Hause des Diomedes und des Mr. Swiss für
ihren Magen nicht den kürzeren zu ziehen. In Anbetracht sämmtlicher
innerer und äusserer Umstände war dies zweifellos auch das klügste,
was sie zu thun vermochten, denn die Maimittagssonne meinte es zwar entschieden
mit den Eidechsen, Schmetterlingen und sonstigen geflügelten Bewohnern
oder Besuchern der weiten Trümmerstätte sehr gut, dagegen für
den nordländischen Teint einer Mistress oder Miss begann ihre scheitelrechte
Aufdringlichkeit unbedingt weniger liebsam zu werden. Und vermuthlich
in einem Causalverband damit hatten die ›charmings‹ sich in
der letzten Stunde bereits erheblich vermindert, die ›Shockings‹
sich um ebensoviel vermehrt und die männlichen ›auhs‹,
zwischen noch weiter als vorher auseinandergeklafterten Zahnreihen hervorkommend,
einen bedenklichen Uebergang zum Gähnen angetreten.
Merkwürdig aber war's, wie gleichzeitig mit diesem Wegschwinden das,
was ehemals die Stadt Pompeji gewesen, ein ganz verändertes Gesicht
annahm. Nicht etwa ein lebendiges, vielmehr schien's sich jetzt erst völlig
zu todter Reglosigkeit zu versteinern. Doch aus dieser rührte ein
Gefühl an, dass der Tod zu sprechen anfange, nur nicht in einer für
Menschenohren vernehmbaren Weise. Allerdings klang es da und dort, als
komme ein raunender Ton aus dem Gestein hervor, den weckte indess nur
der leise flüsternde Südwind auf, der alte Atabulus, der vor
zwei Jahrtausenden so um die Tempel, Hallen und Häuser gesummt hatte
und nun mit den grünen, flimmernden Halmen auf den niedrigen Mauerresten
sein tändelndes Spiel trieb. Von der Küste Afrikas brauste er
oftmals, aus voller Brust wildes Gefauch ausstossend, herüber; das
that er heute nicht, umfächelte nur sanft die wieder ans Licht zurückgekehrten
alten Bekannten. Von seiner eingeborenen Wüstenart dagegen konnte
er nicht lassen, blies Alles, was er auf seinem Wege traf, wenn auch noch
so leis, mit heissem Athem an.
Dabei half ihm die Sonne, die seine ewig jungbleibende Mutter war. Sie
verstärkte seinen glühenden Hauch und vollbrachte dazu, was
er nicht konnte, übergoss Alles mit zitterndem, blinkendem und blendendem
Glanz. Wie mit einem goldenen Radirmesser löschte sie an den Häuserrändern
der semitae und crepidines viarum, wie man einst die Trottoire benannt
hatte, jeden schmalen Schattenstrich weg, warf in alle vestibula, atria,
peristyla und tablina ihre vollsten Strahlengarben oder, wo ein Ueberdach
ihnen den graden Zugang wehrte, unter dies abspringende Funken hinein.
Kaum irgendwo gab's noch einen Winkel, dem es gelang, sich gegen das Lichtgewoge
zu schützen und mit einem silbernen Dämmergewebe zu umhüllen;
jegliche Strasse zog sich zwischen den alten Mauerwerken wie ein langer,
zum Bleichen ausgebreiteter, weissrieselnder Linnenstreifen dahin. Und
ohne Ausnahme alle gleich reglos und lautlos, denn nicht nur die schnurrenden
und näselnden Sendboten Englands und Amerikas waren bis auf den letzten
aus ihnen verschwunden, auch das bisherige kleine Leben der Lacerten und
Falter schien ebenso die schweigsame Trümmerstatt verlassen zu haben.
Sie hatten's wohl in Wirklichkeit nicht gethan, doch der Blick nahm keine
Bewegung mehr von ihnen gewahr. Wie's seit Jahrtausenden der Brauch ihrer
Vorfahren draussen an den Berghängen und Felswänden gewesen,
wenn der grosse Pan sich zum Schlafen hingelegt, hatten sie auch hier,
um ihn nicht zu stören, sich regungslos ausgestreckt oder, die Flügel
zusammenfallend, da und dort hingekauert. Und es war, als empfänden
sie hier noch verstärkter das Gebot der heissen, heiligen Mittagsstille,
in deren Geisterstunde das Leben verstummen und sich niederdrücken
müsse, weil die Todten in ihr aufwachten und in tonloser Geistersprache
zu reden begannen. |