Beim Besuche einer der
grossen Antikensammlungen Roms hatte Norbert Hanold ein Reliefbild entdeckt,
das ihn ausnehmend angezogen, so dass er sehr erfreut gewesen war, nach
Deutschland zurückgekehrt, einen vortrefflichen Gipsabguss davon erhalten
zu können. Der hing nun schon seit einigen Jahren an einem bevorzugten
Wandplatz seines sonst zumeist von Bücherständern umgebenen Arbeitszimmers,
sowohl im richtigen Lichtauffall als an der, wenngleich nur kurz, von der
Abendsonne besuchten Seite. Ungefähr in Drittel-Lebensgrösse stellte
das Bildnis eine vollständige, im Schreiten begriffene weibliche Gestalt
dar, noch jung, doch nicht mehr im Kindessalter, andrerseits indesss augenscheinlich
keine Frau, sondern eine römische Virgo, die etwa in den Anfang der
Zwanziger-Jahre eingetreten. Sie erinnerte in nichts an die vielfach erhaltenen
Reliefbilder einer Venus, Diana oder sonstigen Olympierin, ebensowenig an
eine Psyche oder Nymphe. In ihr gelangte etwas im nicht niedrigen Sinn Menschlich-Alltägliches,
gewissermassen ›Heutiges‹ zur körperhaften Wiedergabe,
als ob der Künstler, statt wie in unsern Tagen mit dem Stift eine Skizze
auf ein Blatt hinzuwerfen, sie auf der Strasse im Vorübergehen rasch
nach dem Leben im Thonmodell festgehalten habe. Eine hochwüchsige und
schlanke Gestalt, deren leichtgewelltes Haar ein faltiges Kopftuch beinahe
völlig umschlungen hielt; von dem ziemlich schmalen Gesicht ging nicht
das geringste einer blendenden Wirkung aus. Doch lag ihm unverkennbar auch
fremd ab, eine solche üben zu wollen; in den feingebildeten Zügen
drückte sich eine gleichmütige Achtlosigkeit auf das umher Vorgehende
aus, das ruhig vor sich hinschauende Auge sprach von voll unbeeinträchtigter
leiblicher Sehkraft und still in sich zurückgezogenen Gedanken. So
fesselte das junge Weib keineswegs durch plastische Formenschönheit,
besass aber etwas bei den antiken Steingebilden Seltenes, eine naturwahre,
einfache, mädchenhafte Anmut, die den Eindruck regte, ihm Leben einzuflössen.
Hauptsächlich geschah dies wohl durch die Bewegung, in der sie dargestellt
war. Nur ganz leicht vorgeneigten Kopfes, hielt sie mit der linken Hand
ihr ausserordentlich reichfaltiges, vom Nacken bis zu den Knöcheln
niederfliessendes Gewand ein wenig aufgerafft, so dass die Füsse in
den Sandalen sichtbar wurden. Der linke hatte sich vorgesetzt, und der rechte,
im Begriff nachzufolgen, berührte nur lose mit den Zehenspitzen den
Boden, während die Sohle und Ferse sich fast senkrecht emporheben.
Diese Bewegung rief ein Doppelgefühl überaus leichter Behendigkeit
der Ausschreitenden wach und zugleich eines sicheren Ruhens auf sich. Das
verlieh ihr, ein flugartiges Schweben mit festem Auftreten verbindend, die
eigenartige Anmut. Wo war sie so gegangen und wohin ging sie? Doctor Norbert Hanold, Docent der Archäologie, fand eigentlich für seine Wissenschaft an dem Relief nichts sonderlich Beachtenswerthes. Es war kein plastisches Erzeugnis alter grosser Kunst, sondern im Grunde ein römisches Genrebild, und er wusste sich nicht klarzustellen, was daran seine Aufmerksamkeit erregt habe, nur dass er von etwas angezogen worden und diese Wirkung des ersten Anblicks sich seitdem unverändert forterhalten habe. Um dem Bildwerk einen Namen beizulegen, hatte er es für sich ›Gradiva‹ benannt, ›die Vorschreitende‹; das war zwar ein von den alten Dichtern lediglich dem Mars Gradivus, dem zum Kampf ausziehenden Kriegsgott, verliehenes Beiwort, doch Norbert erschien es für die Haltung und Bewegung des jungen Mädchens am besten bezeichnend. Oder, nach dem Ausdruck unserer Zeit, der jungen Dame, denn unverkennbar gehörte sie nicht unterem Stande an, war die Tochter eines Nobilis, jedenfalls eines honesto loco ortus. Vielleicht – ihre Erscheinung erweckte ihm unwillkürlich die Vorstellung – konnte sie vom Hause eines patrizischen Aedilis sein, der sein Amt im Namen der Ceres ausübte, und befand sich zu irgendeiner Verrichtung auf dem Weg nach dem Tempel der Göttin. Doch einem Gefühl des jungen Archäologen stand's entgegen, sie sich in den Rahmen der grossen, lärmvollen Stadtwelt Roms einzufügen. Ihr Wesen, ihre ruhige stille Art gehörte ihm nicht in dies tausendfältige Getriebe, drin niemand auf den Andern achtete, sondern in eine kleinere Ortschaft, wo jeder sie kannte, stillstehend und ihr nachblickend zu einem Begleiter sagte: »Das ist Gradiva« – ihren wirklichen Namen vermochte Norbert nicht an die Stelle zu setzen – »die Tochter des ... sie geht am schönsten von allen Jungfrauen in unserer Stadt.« Als ob er's mit eigenem Ohr so vernommen, hatte sich das ihm im Kopfe festgesetzt und drin eine andere Annahme fast zur Ueberzeugung ausgebildet. Auf seiner italienischen Reise war er mehrere Wochen hindurch zum Studium der alten Trümmerreste in Pompeji verblieben und in Deutschland ihm eines Tages plötzlich aufgegangen, die von dem Bild Dargestellte schreite dort irgendwo auf den wiederausgegrabenen eigenthümlichen Trittsteinen, die bei regnerischem Wetter einen trockenen Uebergang von einer Seite der Strasse zur anderen ermöglicht und doch auch Durchlass für Wagenräder gestattet hatten. So sah er sie, wie ihr einer Fuss sich über die Lücke zwischen zwei Steinen hinübergesetzt, während der Andere im Begriff stand nachzufolgen, und bei der Betrachtung der Ausschreitenden baute sich das sie näher und weiter Umgebende wie leibhaftig vor seiner Vorstellungskraft auf. Sie erschuf ihm, unter Beihülfe seiner Alterthumskenntnis, den Anblick der lang hingedehnten Strasse, zwischen deren beide Häuserreihen mannigfach Tempelgebäude und Säulenhallen sich einmischten. Auch Handel und Gewerbe traten ringsum zur Schau, tabernae, officinae, cauponae, Verkaufsläden, Werkstätten, Schankbuden; Bäcker hielten ihre Brode ausgelegt, Thonkrüge, in marmorne Ladentische eingelassen, boten alles für den Haushalt und die Küche Erforderliche dar; an der Strassenkreuzungsecke sass eine Frau, in Körben Gemüse und Früchte feilbietend; von einem halben Dutzend der grossen Walnüsse hatte sie die Hälfte der Schale weggethan, um zur Reizung der Kauflust den Kerninhalt als frisch und tadellos zu zeigen. Wohin das Gesicht sich wendete, stiess es auf lebhafte Farben, bunt bemalte Mauerflächen, Säulen mit rothen und gelben Kapitälen; alles funkelte und strahlte in mittägiger Sonne Blendung zurück. Weiter abwärts ragte auf hohem Sockel eine weissblitzende Statue empor, darüberher sah aus der Weite, doch von zitterndem Spiel der heissen Luft halb verschleiert, der Mons Vesuvius, noch nicht in seiner heutigen Kegelgestalt und braunen Oede, sondern bis gegen den zerfurchten Schroffengipfel hinan mit grünflimmerndem Pflanzenwuchs bedeckt. In der Strasse bewegten sich nur wenig Leute, nach Möglichkeit einen Schattenwurf aufsuchend, hin und her, die Glut der sommerlichen Mittagsstunde lähmte das sonst geschäftige Treiben. Dazwischen schritt die Gradiva über die Trittsteine dahin, scheuchte eine goldgrünschillernde Lacerte von ihnen fort. |